The Hirsch Effekt: Komplexe Hassmusik für Benennungs-Fetischisten

6 Minuten Lesedauer

 Die Komplexität


Sprache ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich die (eigene) Welt ausdifferenziert und erweitert. Durch Begriffe und durch einen reichhaltigen Wortschatz entsteht Komplexität, wo zuvor Einfachheit und Selbstverständlichkeit war.
Wenn ich zu einem Baum nicht mehr „Baum“ sagen muss, sondern ihn genauer bestimmen und benennen kann, dann entsteht Klarheit und zugleich wird die Welterweiterung als immerwährender und nie abschließbarerer Prozess in Gang gesetzt. Ich werde mich dann notwendigerweise auch mit anderen Bäumen beschäftigen müssen um ihnen den je passenden Begriff anheften zu können.
Die eigene Welt ist danach nicht mehr dieselbe. Sie hat sich verändert. Sie erscheint mir in anderem Licht. Wo einst amorphe Ungewissheit und Selbstverständlichkeit vorherrschend war, ist jetzt eine unablässige Benennungs-Sucht. Mein Weltbild ist komplexer geworden und wird von Begriff zu Begriff komplexer, aber auch klarer und schärfer. Das dumpfe Gefühl, dass ich von der Welt um mich herum überfordert bin, weicht mehr und mehr. Das ozeanische Gefühl das „Eins-Seins“ mit der Welt verschwindet zunehmend.
Ähnlich verhält es sich mit Musikalität und den Strukturen in der Musik. Es gibt Musik, die das ozeanische Ur-Empfinden des Eins-Seins wiederherstellen möchte. Mit weißem Rauschen, mit fast nicht hörbaren Frequenzen. Diese Musik setzt auf Überforderung des Gehörs und auf die Suspension von möglichen Sinn- und Verstehens-Erwartungen. Gemeinhin arbeitet „Harsh Noise“ mit diesen Mitteln.
Schichten werden auf Schichten gelegt, Geräusch auf Geräusch. Bis ein Klangteppich entsteht, dem man sich nur mehr wehrlos ergeben kann. Es gilt zu akzeptieren, dass man diese Art von Musik über sich hinwegrauschen lassen muss. Es ist Musik, die letzten Endes die Sprachlosigkeit thematisiert, die Überforderung, die Kapitulation vor der immensen Komplexität der Innenwelt und der Außenwelt.


 Das Konzert


Die deutsche Band „The Hirsch Effekt“ wählt glücklicherweise einen anderen Weg. Sie wählt den Weg des erweiterten musikalischen Wortschatzes, welcher in der Live-Situation mit unglaublicher Musikalität angewandt wird. „The Hirsch Effekt“ sind eine Band für „Benennungs-Fetischisten“, für Begriffs-Fanatiker und für Fans von stetig steigender Komplexität.
Man könnte es sich leicht machen und der eigenen Wut mit gesteigertem Hass, ein paar hingerotzten Akkorden und simplen, aber effektiven Beats begegnen. Das machen schon viele. Zu viele. Diese Band aus Hannover hat sich für den schwierigen Weg entschieden. Einen Weg, der neben höchster Musikalität auch hervorragende spieltechnische Fähigkeiten erfordert. Einmal kurz hingesetzt und einen Song runtergerotzt ist hier nicht. Diese Songs sind sorgsam gesetzte und komponierte Kunstwerke, erschaffen aus Wut, Hass, Trauer, Verzweiflung und ein bisschen Liebe.
Die Gegenseite dieser musikalischen Komplexität würde wohl argumentieren, dass Wut, Hass Trauer und einige andere unmittelbare und intensive Gefühle unter diesen minutiösen durchdachten und komplexen Konstruktionen erdrückt werden. Unmittelbare Gefühle bräuchten auch unmittelbaren Ausdruck. Spieltechnik stünde da eher im Weg.
„The Hirsch Effekt“ bewiesen beim gestrigen Konzert im „Weekender“ das genaue Gegenteil. Unter der Präzision ihrer Musikalität und unter den vielfältigen und punktgenau eingesetzten Mitteln kamen diese Gefühle erst richtig und unmittelbar zum Ausdruck. Die Gefühle waren nicht mehr dumpf und überwältigend, sondern genauestens beschrieben, thematisiert und umgesetzt. Sie waren aber „anders“ geworden. Komplexer, komplizierter – aber auch klarer.
Damit lassen sich auch Auswege finden. Mit Drei-Akkorde-Hassmusik lässt sich nur dem undifferenzierten Hass frönen. Die Strukturlosigkeit von „Noise“ führt außerdem lediglich zum Fatalismus der Überforderung und der Ausweglosigkeit.
Die Musik von „The Hirsch Effekt“ ist dagegen eine grandiose Anleitung sich der eigenen Innen- und Außenwelt zu stellen. Sie zu benennen. Den eigenen Abgründen mit Präzision und Klarheit Herr zu werden. Das mag manchen Hörer überfordern. Die Lautstärke der Band beim gestrigen Konzert war außerdem immens. Doch kein Soundmatsch weit und breit. Sondern Schärfe und Klarheit.
„The Hirsch Effekt“ machen Musik für Präzisions-Fanatiker. Für Komplexität-Liebhaber. Für Menschen, die sich mit der Einfachheit der Dinge ganz einfach nicht abfinden wollen, sondern jeder Situation, jeder Sache und jedem Phänomen ihre Nuancen abringen möchten.
Ein großartiges, ja beglückendes Konzert. Trotz all dem Hass, der Wut, der Trauer und der Verzweiflung, die gestern von der Bühne geblasen wurden.


 Zum Reinhören




Titelbild: (c) Blackwork - P. Diercks

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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