Den Bestseller-Autor sieht man Benedict Wells nicht an, als er sich in einer ausgesprochen gut besuchten Tyrolia zur Präsentation seines neuen Romans Vom Ende der Einsamkeit niederlässt. Die Geschichte dreier Geschwister, die Anfang der 80er Jahre als ältere Kinder ihre Eltern in einem Autounfall verlieren und dann über Jahrzehnte mehr oder weniger bewusst an dem Verlust zu kauen haben, verkauft sich schon jetzt, zwei Monate nach der Veröffentlichung, gleich gut wie sein Überraschungsdebüt Becks letzter Sommer von 2008. Im Hintergrund stehen die ja nicht uninteressanten Fragen, was mit dem Leben eines Menschen passiert, wenn es eine hässliche Abzweigung nimmt, wie biographische Narrative funktionieren, wie veränderbar die Bedeutung von Erinnerungen ist – und ob es in einer Person etwas gibt, das so resilient ist, dass es alle Tragödien und Verletzungen übersteht.
Als Person ist Wells unkompliziert, freundlich, witzig. Der Autor Wells mag nachdenklicher sein, aber er ist ähnlich zurückhaltend – und man gewinnt den Eindruck, dass er sich selbst nicht immer und in allem so ganz ernst nimmt.
So besteht also doch ein wenig Hoffnung darauf, dass endlich die Leichtfüßigkeit Einzug in die deutsche Romanliteratur hält und auch schwerere Themen und komplexere Fragen ohne die übliche Gravität lesbar und trotzdem literarisch bleiben. Und literarisch ist Wells schon, das muss man zugeben.
Zum Roman: Ein Talent für Figuren
Zumindest hat er so viel schriftstellerisches Feingefühl, um eingestehen zu können, dass gute Romanfiguren für ihre Schöpfer undurchsichtig oder -berechenbar bleiben müssen, weil ein Narrativ immer inneren Regeln gehorchen muss – so wie das schon der große Eco über seinen Mörder Jorge von Burgos in Der Names der Rose gesagt hat. Das ist heute mit Sicherheit ein wenig abgedroschen und deshalb auch kein untrügliches Qualitätsmerkmal mehr, aber es ist eines. Tatsächlich sind es nämlich die Charaktere, mehr als Stimmungen oder Situationen, für die Benedict Wells ein echtes Talent hat. Die Figuren in „Vom Ende er Einsamkeit“ sind eigentlich nicht bemüht komplex oder originell, aber trotzdem sehr eigenwillig. Der Ich-Erzähler Jules, das jüngste unter den Geschwistern und irgendwann selbst Schriftsteller, ist vor allem deshalb ein interessanter Protagonist, weil an ihm deutlich wird, wie aus einer Fülle an „rohen“ Eindrücken und Erlebnissen Geschichten werden, wie Erinnerungen ihre spezifische Bedeutungen bekommen und eine Person zur Persönlichkeit wird – und wie der Mensch sich manchmal selbst betrügt, um eine erzählbare Lebensgeschichte zusammen zu bekommen.
Seine beiden älteren Geschwister greifen zu eher stereotypen Formen der Bewältigung (aber auch das ist ja durchaus realistisch) – der mittlere Bruder wird zunehmend zum intellektuellen Kauz, erfolgreich, aber verkorkst, im Laufe des Romans aber immer zugänglicher; die älteste Schwester wird ob des Schicksalsschlages ein wenig zum gefallenen Mädchen mit vielen Männer- und Drogengeschichten, eine große Dramatikerin, aber im Kern furchtbar verunsichert. Das sind für sich genommen keine „neuen“ Charaktere, aber sie funktionieren im Beziehungsgeflecht recht gut.
Die wirklich große Stärke des Buches ist aber Alva, das Mädchen, das sich mit dem elfjährigen Jules anfreundet, weil er neben ihr selbst als einziges Kind in der Klasse nicht glücklich ist, und das Jules (natürlich!) die ganze Geschichte hindurch lieben wird, ein ziemlich großes Stück davon aber ohne es zu merken. Eine stille, rothaarige Brillenträgerin, die nie über ihren eigenen schmerzhaften Verlust (den ihrer älteren Schwester) spricht ist diese Alva; als junge Frau ist sie von Selbsthass zerfressen und deshalb umso zerstörerischer, und sucht ohne Pause Linderung bei einem unerschöpflichen Heilmittel, bei Büchern. Am liebsten wäre sie selbst eine Romanfigur und flüchtet (deshalb?) sehr jung nach Russland, ins Land ihrer Lieblingsschriftsteller. Wells beschreibt sie als heftig und getrieben, aber auch so, als hätte man das Wort Behutsamkeit eigens für sie erfunden.
Es ist eigentlich dieses Bedürftige, immer Unfertige, Rätselhafte und Skurrile an seinen Charakteren, das in Vom Ende der Einsamkeit zentral ist, viel mehr als Heroische oder Großartige – das, was wie beiläufig entsteht, wenn Menschen versuchen, ihr Leben und die Dinge, die ihnen eben in dessen Verlauf zustoßen, das Unverständliche und Tragische, zu verstehen und zu verarbeiten. Und was da entsteht, hilft vielleicht in der Bewältigung gar nicht so sehr, aber es ist schön und eigen und skurril.
Tatsächlich gewinnt man den Eindruck, dass der Roman in weiten Strecken von genau diesem Interesse an und der Liebe zu den Skurrilitäten des Menschen getragen wird. Das andere wichtige Moment ist vielleicht die Leidenschaft für die Kunst und für das, was sie für die Suchenden dieser Welt tun kann – das ganze Buch ist voller kleinerer und größerer Anspielungen auf Musik und Literatur, von Harper Lee und Carson McCullers über Nick Drake und Elliott Smith bis hin zu Jack Kerouac und Paolo Conte. Interessant ist, dass Vom Ende der Einsamkeit sich damit nicht nur auf die diffuse, schwer greifbare „Wirklichkeit“, sondern auch auf Literatur als eigenen Diskurs bezieht und darauf anspielt.
Das erinnert übrigens immer wieder – wie wunderbar! – ein wenig an Nick Hornby, nur dass Wells Bücher weniger schwarz und weniger ironisch, dafür aber ernsthafter und sachter und (wie sollte es anders sein?) insgesamt einfach deutscher sind.
Es schließt auch eine gewisse Zurückhaltung dem Leser gegenüber ein, die aber einer Aufforderung gleichkommt – schließlich hat Wells den Roman um mehr als die Hälfte gekürzt, um lose Fäden übrig und Lücken offen zu lassen, mit denen das Publikum sich dann herumschlagen soll.
Fazit
Das ist eigentlich ein sympathisches Konzept, aber es regt sich auch ein leiser Zweifel: Ist das Interessante an Literatur wirklich das, was Projektion erlaubt, und nicht viel mehr das, was sich sperrt und entzieht, was irritiert, was betroffen macht – das, was man gemeinhin „Alterität“ nennt? Zumindest macht man manchmal die Erfahrung, das Literatur in sich so stark sein kann, dass sie einen verändert zurücklässt – und genau das tut Vom Ende der Einsamkeit eigentlich nicht oder nur begrenzt. Deshalb gehört es für mich auch nicht zu den aktuellen Romanen, die man unbedingt lesen muss – weil es zu viele gute Bücher auf der Welt gibt und man zwangsläufig eine Auswahl treffen muss. Aber man kann Wells ohne Zweifel lesen, wenn man sich ein wenig mit ihm und seinen Figuren identifizieren kann, und das mit Vergnügen und auch mit einem gewissen Gewinn. Vor allem sollte man ihn auch weiterhin beobachten (der nächste Roman ist auch schon konzipiert). Wells ist nämlich ein Autor, der nicht so restlos von sich überzeugt ist, dass jegliche Entwicklung schon verunmöglicht ist – tatsächlich kann er bei seiner Lesung in Innsbruck Scherze darüber machen, dass ein Großteil des zahlreich erschienenen Publikums ohnehin bestochen ist. Er ist auch ein Autor, der wohl nicht gerne Gott spielt, sondern seine Figuren mit einem gewissen Respekt behandelt.
Vor allem aber ist er ein Literat, der die Literatur als ganze liebt, nicht nur seine eigene – dass er selbst schreiben wollte, wurde ihm klar, nachdem er als Teenager Das Hotel New Hampshire gelesen hatte, und das ist natürlich keine schlechte Motivation. Vor allem lässt es erahnen, dass Wells offen genug ist für das, was rund um ihn passiert, dass daraus noch ziemlich interessante neue Projekte entstehen könnten. Wir bleiben mal gespannt!
Artikelbild © Arlet Ulfers