Lady Gaga und Rihanna: Die (fast) perfekten Popstars
Die Gründe sich von Popmusik abzuwenden sind zahlreich. Da wäre etwa die mit dieser einhergehende relative Langweile, wenn es um Variantenreichtum und Ideenfülle geht. Popmusik neigt dazu, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen um von einer möglichst breiten Masse verstanden zu werden.
Doch es gibt auch Ausnahmen, die mit den beiden Polen Musikalität und Verständlichkeit spielen und diese in ein interessantes Verhältnis zueinander bringen. In dieser Sache wären KünstlerInnen wie David Bowie oder Beyoncé zu nennen.
Letztere hat mit „Lemonade“ gerade ein veritables Meisterwerk veröffentlicht. Womöglich ist es das Album, das Künstlerinnen wie Lady Gaga oder Rihanna immer schon veröffentlichen wollten.
Bei Lady Gaga sind zumindest die Video-Clips interpretationswürdige Zeichengeflechte, die auf alles anspielen, was in der Popkultur Rang und Namen hat. Doppelte Böden, Ironie und Verwirrung der kulturellen Codes sind hier inbegriffen. Leider schafft es ihre Musik aber meist nicht über das Niveau von tanzbarem Kirmes-Pop-Techno oder schwülstigen Balladen hinaus.
Anders bei Rihanna. Mehrmals war sie in ihrer Karriere schon dem perfekten Popsong nahe. Auf Album-Länge hat sie es aber tatsächlich noch nie geschafft, kritische Hörerinnen und Hörer bei der Stange zu halten. Überhits gingen in seichte, völlig belanglose Popsongs über, die man beim nächsten Hören einfach am besten übersprang.
Fakt ist: Rihanna ist keine Album-Künstlerin, sondern kann auf ihre Hits reduziert werden. Ihre Videos hatten außerdem niemals die Komplexität und den Einfallsreichtum der Lady-Gaga-Clips zu bieten und eigneten sich eher als Wichsvorlage für ältere Herren und waren nicht in die Lage, die Interpretationslaune des intellektuellen Musikhörers und Clip-Schauers anzustacheln.
„Lemonade“: Als Popmusik (wieder) Perfektion erreichte
Wenn Beyoncé jetzt mit „Lemonade“ überraschend um die Ecke kommt, dann werden die Probleme dieser beiden Künstlerinnen überraschend klug umschifft. Das Album ist musikalisch hochinteressant, vielfältig und Popmusik im allerbesten Sinne. Es fordert den unbedingten Willen heraus, es auf musikalischer und visueller Ebene interpretieren und verstehen zu wollen.
Es ist Popmusik in einem Sinne, wie sie im besten Fall sein könnte und sein sollte: Ein komplexes Verfahren um mit kulturellen Phänomenen aller Orte und Genres musikalisch und visuell umzugehen und diese verständlich und massentauglich auf den Punkt zu bringen. Dabei wird mit den oben genannten Polen gespielt: Wie viel Musikalität, Kunst und Komplexität kann ich der breiteren Masse zumuten? Wie viele Zugeständnisse an die Erwartungshaltungen und an den Verstehens-Horizont meiner Hörerinnen und Hörer mache ich als Künstlerin?
Beyoncé wird spätestens mit „Lemonade“ zum Inbegriff der zeitgenössischen und modernen Pop-Künstlerin. Sie begreift Popmusik als Kunst und behält doch die Verständlichkeit im Blick. Sie nützt die volle Fülle der popmusikalischen Verfahren und vermeidet somit Langweile. Das visuelle Zeichengeflecht, das bei Popmusik immer das Wechselspiel zwischen Text und Kontext definiert, liefert sie gleich mit. Das Album wird von einem über einstündigen Film begleitet, der quasi die Bilder zum „normalen“ Album und zur Musik frei Haus liefert.
Anders als bei vergleichbaren Produktionen überragt allerdings die visuelle Fülle und Überfülle von Zitaten und Verweisen niemals die Musik. Die Musik ist ebenso verweisreich, vielseitig und differenziert wie die visuelle Ebene. Von Rock über Jazz bis hin zu Country und Reggae mischen sich alle nur denkbaren Einflüsse in das auf diesem Album angenehm wenig süßlich R´n´B Gebräu von Beyoncé.
Beyoncé nähert sich auf „Lemonade“ gar dem Meister der Popkultur schlechthin an: David Bowie. Nicht dass sie so wie er klingen würde. Nicht, dass man jetzt schon behaupten könnte, dass ihre Musik die Zeit so gut überdauern würde wie seine. Aber sie schafft es wie er, den Zeitgeist zu umarmen, sich mit den jeweils richtigen Menschen zu umgeben um diesen zu vertonen und dabei dennoch ganz bei sich zu bleiben und als Künstlerin gelten zu können.
Auch wenn sie auf diesem Album von zahllosen Produzenten und Songschreibern umschwirrt wird, behält sie offenkundig und bestens hörbar stets die Kontrolle über den kreativen Prozess. Entstanden ist dabei zweifellos das vielseitigste, dunkelste und radikalste Beyoncé-Album bisher. Beyoncé muss ihre Songs nicht von vorne bis hinten selbst schreiben und produzieren, um diese Songs zu ihren ganz persönlichen Statements zu machen.
Vielmehr versteht sie es, die Leute um sie zu scharen, die ihr am besten zu diesem direkten, persönlichen und unmittelbaren Ausdruck verhelfen. Sie inkorporiert Stile, Einflüsse, Möglichkeiten und fügt zusammen. Sie sammelt, lässt überarbeiten, fordert ein. Sie ist auf „Lemonade“ nicht das alleinige kreative Genie, sondern sie fügt Stile, Verweise und sämtliche Möglichkeiten der gegenwärtigen Popmusik zu einem konzisen Album zusammen. Sie ist der Anziehungspunkt, der verschiedenste KünstlerInnen an sich bindet und um sich schart, wie zum Beispiel James Blake, Jack White, Kendrick Lamar, The Weeknd und viele mehr.
Auf „Lemonade“ gibt es viel zu entdecken. Es gilt mehrere Ebenen auseinander zu halten und dabei zuzuhören und zuzusehen, wie diese ineinander überfließen. Ist „Lemonade“ ihr Trennungsalbum und ihre Krisen-Platte? Möchte sie mit diesem Werk ihrem offenbar untreuen Ehemann Jay-Z eines auswischen und seine Untreue ans Licht der Öffentlichkeit zerren? Möglicherweise. Die Boulevard-Medien zerreißen sich in dieser Hinsicht jedenfalls schon mal das Maul.
Darüber hinaus ist das Album über auch ein Dokument ihrer afrikanischen Wurzeln. Es strotzt nur so vor Codes, die in der „Black-Community“ verstanden werden, die aber einem weißen, nicht sonderlich wütenden und wenig eingeweihten Rezensenten wenig sagen. Auch dies Codes gälte und gilt es zu entschlüsseln und zu interpretieren.
Neben dem kämpferischen Unterton, der die schwarze Frau in Amerika als unterdrückt und marginalisiert darstellt, bleibt aber auch eine universell verständliche, berührende und intensive Liebesgeschichte bestehen. Egal, wie viel autobiographisch an „Lemonade“ sein mag, jede Frau und jeder Mann, der in seinem oder ihren Leben schon einmal betrogen wurde und doch nicht loslassen konnte, wird sich in diesem Album wiederfinden und davon zutiefst berührt werden.
Fazit
So liegt „Lemonade“ vor einem: Zugänglich und unverständlich zugleich. Musikalisch manchmal sperrig und doch immer wieder tanzbar. Evident und doch hochgradig verschlüsselt. Zeitgeistig und doch visionär. Ganz so eben, wie Popmusik im allerbesten Fall sein sollte.
Es gibt wirklich viele Gründe, sich von der heutigen Popmusik abzuwenden. „Lemonade“ ist aber in seiner Ausführung und Inszenierung so überzeugend, dass man sich ernsthaft überlegen sollte, hin und wieder in diese Gefilde zurückzukehren.
Zum Reinhören
Titelbild: HBO