Brexit & Co.: Wie der ungebildete Pöbel unser gesellschaftliche und wirtschaftliche Zukunft zu Fall bringen wird

8 Minuten Lesedauer

In Zeiten der Krise stellt sich zum Glück heraus, wer Freund und wer Feind ist. Es wird deutlich, wer sich zu dem erlauchten Kreis der „Gebildeten“ zählen darf und wer für immer die Zuschreibung „Pöbel“ und „Ungebildeter“ mit sich herumschleppen muss. Fortan wird sich alles zuspitzen auf einen Kampf zwischen diesen beiden Gruppierungen.
Wir, die Gebildeten, werden nicht müde darauf hinzuweisen, dass der „Pöbel“ gerade drauf und dran ist unsere Zukunft zu verspielen. Mit zutiefst irrationalen Entscheidungen. Mit dämlichen Protestwahlen. Mit Entscheidungen, deren Trag- und Reichweite sie beim besten Willen nicht abschätzen können. Wer erst am nächsten Tag danach googelt, was für Folgen der „Brexit“ denn nun wirklich für die Zukunft hat, der hat zweifellos ein Bildungsproblem. Wir müssen uns solidarisieren. Und diesem Wahnsinn endlich ein Ende bereiten.
Man hätte es kommen sehen müssen. Nicht umsonst wird in den USA der nächste Präsident höchstwahrscheinlich Donald Trump heißen. Ein Mensch, der außer pöbeln und rassistische Ressentiments bedienen nur sehr wenig auf die Reihe bekommt. Ob er überhaupt weiß, wo dieses Europa liegt und wo folglich die Kultur beheimatet ist, die er ob seiner unfassbaren Dummheit und Unbildung so dringend notwendig hätte?
Fast zeitgleich hat der Politiker Boris Johnson die Briten an den Rand des Abgrundes geblödelt. Das scheint das Leitmotiv zu sein. Blödelei, Irrationalität, Entscheidungen aus heiterem Himmel, die kein vernünftiger und gebildeter Mensch nachvollziehen kann. Mit der Wahrheit nehmen es Politiker wie Johnson nicht allzu genau. Außerdem steht die Selbstinszenierung weit im Vordergrund. Werte wie Moral, Integrität und Wahrheitsliebe verschwinden mehr und mehr.
Politik ist zur Show geworden. Menschen, die diese Showhaftigkeit nicht semiotisch interpretieren und somit enttarnen können, fallen scharenweise darauf herein. Sie wählen denjenigen, der die beste Show bietet und der die einfachsten und somit showtauglichsten Antworten liefert. Das sind im allerbesten Fall auch Antworten, die dazu in der Lage sind, die träge und leichtgläubige Masse zu erzürnen. Erregung und Aufregung sind der Motor, der das System Politik zunehmend antreibt. Die Migranten gefährden unsere Identität und sind somit abzulehnen. Wer diesem derzeitigen Leitsatz entspricht gewinnt Wahlen und Abstimmungen.
Damit wird klar, dass der Weg in Richtung Abgrund führt. In Richtung Kollaps eines Systems, das man gemeinhin Politik nennt. Die immanenten Funktionsweisen dieses Systems werden von immer weniger Menschen verstanden. Die Sprache, die Begriffe und die Formulierung der Politiker erscheinen immer mehr Menschen fremd und abgehoben. Wie ein Diskurs, der sich nur mehr selbstreferentiell auf sich bezieht, aber keine tatsächliche Realität mehr im Blick hat.
Es gibt somit mögliche Konsequenzen: Man bittet den „Pöbel“, endlich die Funktionsweisen der Politik zu verstehen und verstärkt Einblicke in die komplexen Entscheidungen zu erlangen. Womöglich wäre es auch eine Option, den „Pöbel“ überhaupt weitestgehend auszuschließen und wieder Intellektuelle und Wissende das Ruder der Entscheidungen zu überlassen.
Womöglich können wir aber aus der aktuellen Situation etwas gänzlich anderes lernen. Unter anderem nämlich, dass der Unterschied zwischen „Intellektuellen“ und „Ungebildeten“ eine Konstruktion ist, die in sich zusammenfällt, wenn man sie genauer betrachtet.
Höchstwahrscheinlich gibt es eine neue, stets wachsende und zutiefst heterogene Gruppierung von Menschen, die sich nicht mehr von Politik und politischen Entscheidungen vertreten fühlt. „Intellektuelle“ und „Ungebildete“ fühlen sich zunehmend und immer weniger „vertreten“ und wahrgenommen. Womöglich ist somit der Kampf zwischen „Intellektuellen“ und „Ungebildeten“ ein inszenierter und durchaus nicht ungewollte Schattenkampf.
Intellektuelle täten gut daran, selbst eine andere Sprache zu forcieren und diese von den politischen Entscheidungsträgern einzufordern. Sie täten gut daran, die zunehmend auf bloßen Systemerhalt schielende Politik anzuprangern und eine klare Sprache, eine scharfe und ideologiefreie Analyse der derzeitigen Situation einzufordern. Es wäre eine Wohltat, wenn jeder im Rahmen seiner geistigen und gesellschaftlichen Möglichkeiten handeln würde. Der „Intellektuelle“ könnte mit einem anderen Handwerkzeug Kritik üben, als es der „normale“ Arbeiter kann. In der Kombination und Symbiose dieser beiden Ebenen läge eine enorme Durchschlagskraft.
Nur so würden Figuren wie Donald Trump oder Boris Johnson verschwinden oder zumindest machtlos werden. Sie eignen sich nämlich hervorragend als Projektionsfläche für Menschen, die sich von konventionellen Politikern und ihrem Hang zu Floskeln und Politiker-Sprache nicht mehr angesprochen oder vertreten fühlen. Sie täuschen eine neue, klarere und einfachere Sprache vor. In Wahrheit ersetzen sie aber politische Funktionsweisen mit Inszenierung, Show und Oberflächlichkeit, die ins Nichts und möglicherweise zum Kollaps des Systems führt.
Die Krise der aktuellen Politik ist eine Krise der Diskurse, die sie umgeben – und somit auch eine Sprachkrise. Wenn Sprache und Begriffe ausgehöhlt und leer wirken sind auch die damit einhergehenden Diskurse nicht dazu in der Lage, die Komplexität der Situation abzubilden. In dieses Vakuum platzen rhetorisch brillante Menschen wie Boris Johnson, die Lösungen versprechen und klar aussprechen, um den gefühlten Stillstand und die wahrgenommene Aushöhlung des Systems Politik zu beenden.
Es ist also gar nicht der „ungebildete Pöbel“, der derzeit unsere Zukunft verblödelt und verzockt. Wir alle sind es, die es tun. Wir, die wir uns in dieses Differenz-Denken zwischen „Dummen“ und „Intellektuellen“ haben hineindrängen lassen. Auch wenn es naiv klingt: Wir sollten uns alle gemeinsam eine neue Politik wünschen. Wir sollten uns gegenseitig helfen. Wir sollten denjenigen verstärkt eine Stimme geben, die keine mehr haben und aus zunehmendem Frust Parteien in die Arme laufen, welche die naheliegendste und einfachste, aber auch falscheste Lösung parat haben. Es wäre von größter Wichtigkeit. Gerade jetzt. Bevor wir alle gemeinsam unsere gesellschaftliche und wirtschaftliche Zukunft zu Fall gebracht haben.

Titelbild: (c) Dailystormer.com

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

4 Comments

  1. Ja, ich stimme den Beitrag zu. Nein, auch du hast keine Lösungen parat.
    Wir leben in einer sehr komplexen Gesellschaft, die noch komplexere Antworten und viele Fragen benötigt. Die Marketingagentur möchte ich sehen, die einfache Parolen, für dringende benötigte Reformen entwirft, die so viral gehen wie das was Trump & Co. treiben.
    Ich sehe folgende Reformen für dringend notwendig: Ein faires Steuersystem, das nicht den bevorzugt, der das meiste Geld hat. Ein Wirtschaftssystem das nicht mehr wachstumsabhängig von endlichen Rohstoffen ist und ein Sozialsystem, das die wegrationalisierten Arbeiter auffängt.
    Diese Forderungen sind halt schwieriger zu verbalisieren als „Die Ausländer klauen unsere Jobs“.
    Außerdem ist doch das Problem, dass wir uns alle keine „Reichensteuer“ wünschen, weil jeder noch insgeheim den Traum hat, dass er auch einmal „Reich“ wird. Die Realität ist aber, dass wir 99%, Hartz 4 näher sind, als einem Einkommen über einer Mio €.

  2. Stimme auch zu, und hoffe, dass das System Politik nur aus Unfähigkeit versagt hat. Übrigens dürfte der Beitrag der intellektuellen Leitmedien zum Verständnis dieser Politik mit historischem Abstand ähnlich dürftig ausfallen.

  3. Don’t get me started on Brexit! – Deine Auflösung der Gegenüberstellung von Pöbel : Intellektuelle leuchtet mir ein, aber sie greift zu kurz – oder erfordert einen weiteren Text. Hier haben einfach viele einen Wahlzettel mit einem Denkzettel verwechselt (danke, Hr. Wizany). Mir gefällt das Alten-Bashing nicht, das jetzt eingesetzt hat. Viele Ältere wollten wohl einfach das Versprechen des verabscheuungswürdigen Boris glauben, dass es demnächst mehr Geld für das NHS geben würde, das seine Partei seit Jahr(zehnt)en zu Tode spart. Und viele kleine Unternehmen und Leute in Niedriglohnbranchen fühlen sich von Osteuropäern, die bereit sind, unter dem Mindestlohn zu arbeiten, untergraben. Leider dachten sie nicht so weit, dass es aber inländische Firmen sind, die Leute zu solchen Bedingungen einstellen und nicht die Zuwanderer. Was mir am meisten Angst macht, sind Politiker_innen, die bereit sind, zum Vorantreiben ihrer politischen Karriere das Wohl ihres Landes auf’s Spiel zu setzen und genau das tun Cameron, Boris, Gove, Trump u.v.m.

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