Der Interpret als Genie
Der derzeitige Starkult um den russischen Pianisten Daniil Trifonov ist befremdlich. Es gibt gegenwärtig kaum ein Magazin für klassische Musik und Artverwandtes, das ihn im Moment nicht aufs Cover hievt und mit Superlativen überschüttet. Der Interpret wird allerorts zum Genie erklärt.
Dass sich im Booklet seiner aktuellen Aufnahme, die ganz dem Komponisten und Klavier-Virtuosen Franz Liszt gewidmet ist, kein einziges Bild von Liszt befindet, ist da nur folgerichtig. Stattdessen posiert Trifonov verträumt in der Nähe seines Flügels und lehnt sich auf einem anderen Bild lässig mit geschlossenen Augen gegen ebendiesen. Seine Anzüge sitzen. Sein Blick hat die nötige Dosis an Weltabgewandtheit.
Trifonov wird von den Medien als Musiker beschrieben, der am liebsten nur über Musik und über sein Repertoire reden möchte. Ein junger Mann also, der ganz in seiner Musik aufgeht und der, wenn er nicht gerade Konzerte in New York oder Tokio spielt, einsam in seinen eigenen vier Wänden sitzt und ausschließlich Klavierspielen übt. Der Virtuose Trifonov wird zum legitimen Nachfolger von Liszt hochstilisiert. Das ist schön, denn so können wir immerhin etwas von den tatsächlichen rauschhaften Erlebnissen erahnen, die Konzerte von Franz Liszt damals zweifellos darstellten.
Die Zeit ist indes nicht stehengeblieben. Die klassische Musik fristet ein zwar nicht brotloses, aber zumindest von einer breiteren Masse marginalisiertes Dasein. Wer im Heute Liszt spielt muss sich tatsächlich etwas einfallen lassen. Auch wenn die Klassik-Welt noch nicht in allen Facetten im Hier und Jetzt angekommen ist, in Sachen Marketing ist sie es. Die Zuspitzung auf einzelne Virtuosen und Genie-Interpreten funktioniert ganz prächtig und treibt den Konsum-Motor der Klassik-Liebhaber an, die ja die zahllosen Werk-Einspielungen der „Alten Meister“ auch kaufen sollen. Allen voran steht im Moment der nicht schlecht aussehende und sogar glücklicherweise noch hochmusikalische Trifonov.
Komponist und Interpret
Tatsächlich fällt es schwer, nicht in den Superlativ-Chor der weltweiten Presse einzustimmen. Umso wichtiger ist es aber das zu beschreiben, was Trifonov tatsächlich macht. Nein, der Mann ist kein Genie. Seine eigenen Kompositionen sind gutklassig, aber derzeit noch nicht dazu im Stande, den Kanon der Meisterwerke zu erweitern. Er ist somit, zumindest aus der heutigen Sicht, auf seine Rolle als Interpret zu reduzieren. Ein Interpret liest, interpretiert, legt aus und denkt neu – soweit im Kontext der klassischen Musik und deren Konventionen überhaupt möglich.
Tatsächlich kommt Daniil Trifonov seine noch rudimentäre aber dennoch vorhandene Rolle als Komponist sehr entgegen. Er versteht die interpretierten und gespielten Werke in ihrer Logik. Er schreibt jedem Komponisten seine eigenen Logik zu, kennt deren „Tricks“, was Harmonik, Struktur und Inhalte betrifft. Er überblickt die Werke und gelangt vom großen Ganzen zum Besonderen und zu den jeweiligen Besonderheiten.
Sein Zugang zu Liszt auf seiner neuen Solo-CD ist kenntnisreich, intellektuell und doch sinnlich. Er kennt das Leben und das Werk von Liszt, seine Weltgewandtheit und seine verschiedensten Einflüsse. Er liest Liszt aus seiner Zeit heraus, interpretiert ihn als eine „romantische Seele“, der es um die Suche nach neuen musikalischen Mitteln ging. Deutlich widerspricht er, sowohl verbal in Interviews als auch in seiner musikalischen Auslegung, den oftmals getätigten Zuschreibungen, dass Liszt ein reiner Virtuose sei, der Technik über Musikalität stelle.
Bei Trifonov wird hörbar, dass sich, zumindest bei Liszt, beide Ebenen bedingen. Um alle die Gefühlsregungen und Erlebnisse zu beleuchten und musikalisch darzustellen, braucht es stupende spieltechnische Fertigkeiten. Einen stolpernden, patscherten Liszt unter der Hand eines Musiker, der mit den technischen Erfordernissen der Etüden für Solo-Klavier kämpft, ist schlicht und einfach nicht vorstellbar und wünschenswert.
Diese Technik bringt Trifonov mit. Man hat sogar das Gefühl, dass er mit Liszt nicht an seine Grenzen stößt, sondern mit Liszt ein wenig spielt. Seine technischen Fertigkeiten übersteigen das, was Liszt von seinen Interpreten einfordert. Wo andere Interpreten kämpfen und taumeln, da tänzelt Trifonov. Er nimmt sich Freiheiten heraus, wo so manch anderer Interpret damit beschäftigt ist, der Intention von Liszt mit seinen wahnwitzigen Ideen zu entsprechen.
Daniil Trifonov spielt mit den Tempi, findet neue rote Fäden und leuchtet jede musikalische Idee aus. Klarheit steht dabei absolut im Mittelpunkt. Sein Ansatz ist rauschhaft und leidenschaftlich, niemals aber rein virtuos oder gar selbstdarstellerisch. Tatsächlich spielt Trifonov manche Passagen erstaunlich leise und subtil. Es wirkt so als wolle er nicht immer den Konventionen einer „richtigen“ Liszt-Interpretation folgen, sondern sich seinen eigenen Weg durch seine Werke bahnen.
Fazit
Mit „Transcendental“ ist Trifonov tatsächlich eine Einspielung gelungen, die zu Recht mit Lob und Euphorie geadelt wird. Nicht zuletzt deshalb, weil er Liszt auch als sehr modernen Komponisten liest. Er streicht seine harmonische und strukturelle Kühnheit an mehr als nur einer Stelle eindrucksvoll hervor. Liszt war ein Komponist, Virtuose und Lebemensch, der die Eindrücke, Erfordernisse und Überforderungen seiner Zeit kompromisslos und bis ins kleinste Detail ausgearbeitet in seiner Musik gespiegelt hat.
Wie könnte ein Komponist aus dieser Sicht moderner sein? Unsere Gegenwart ist eine Zeit der Überflutung und des Kontrollverlustes des Subjektes. Daniil Trifonov legt mit seinen Liszt-Einspielungen den Versuch vor, mit überschäumender Komplexität umzugehen und dieser Herr zu werden. Das kann unser Haltung zur Welt maßgeblich beeinflussen. Zumindest hat er uns aber eine atemberaubende gute Einspielung geschenkt, die sich mühelos in den Reigen der besten Liszt-Einspielungen aller Zeiten einreihen wird.
Auch wenn man den Marketing-Mechanismen misstrauen mag, die bei Trifonov voll greifen: Dieser junge Mann bietet Substanz und Musikalität, nicht nur schönen Schein. Ihm ist jeder Erfolg der Welt aus vollstem Herzen zu gönnen.
Hier geht es zu der vorherigen Folge von "Plattenzeit".
Zum Reinhören
Titelbild: (c) Robbie Jack, Bearbeitung: Felix Kozubek