Sie öffnete die Türe nur einen Spalt breit, blickte kurz dahinter hervor und ging sofort wieder in die Küche. Die Türe blieb offen. Stefano hielt sich noch immer den Arm vor die Nase. Der Geruch, den er schon vom Gang aus wahrgenommen hatte, war nun unerträglich. Wie konnte man das nur dauerhaft aushalten? Er betrat die Wohnung dennoch. Umgehend wurde ihm klar, woher der Geruch kam. Die Wohnung war verwahrlost. So, als hätte seit mehreren Jahren niemand mehr gefegt, geputzt und den Müll nach unten gebracht.
Vom kleinen quadratischen Vorraum aus, den Stefano gerade betreten hatte und der das Zentrum der Wohnung zu sein schien, konnte er die Alte hören. Sie murmelte etwas vor sich hin. Die Worte waren unverständlich, so schnell und undeutlich quollen sie aus der Alten hervor. Fast wie bei einem Gebet, schienen die Worte sich immer und immer wieder zu wiederholen. Stefano stand nun in der Türe, die in die Küche führte. Die Küche sah genauso aus, wie sich Stefano die Küche einer älteren Dame vorstellte. An die fünfzig Jahre alt, kaum elektronische Geräte. Auf den meisten Arbeitsflächen lagen weiße Häkeldecken, auf denen wiederum Porzellanfiguren von diversen Heiligen standen. Von der Küche aus gab es eine Tür, die direkt auf den Balkon führte. Von dort aus konnte man den gesamten Platz und die Straße überblicken. Rechts neben der Balkontür war eine kleine Eckbank. Der rosa Stoffbezug mit dem Blumenmuster hatte kaum noch Farbe. Im Winkel der Eckbank lagen bestimmt an die 20 Polster, schätzte Stefano.
Während Stefano die Küche genauer studierte, murmelte die Alte unentwegt weiter und rieb sich dabei durchgehend die Hände. Zumindest dachte Stefano das im erstem Moment. Erst auf den zweiten Blick erkannte er eine kleine dunkelbraune Perle am unteren Ende der Hand. An beiden Seiten hatte die Perle einen silbernen Verschluss. Mehr konnte Stefano nicht erblicken. Er war sich aber sicher, dass es sich dabei um das Ende eines Rosenkranzes handelte. Mittlerweile waren gut zwei Minuten vergangen, in denen sich die beiden völlig ignorierten. Die Alte schien geistig völlig abwesend zu sein. Immerhin hatte sie keinerlei Anstalten gemacht, als Stefano nun einen Schritt näher gekommen war. Er stand direkt vor ihr, was sie nicht zu merken schien. Sie ging weiter zwischen Herd, Balkontüre und Eckbank auf und ab, den Kopf zu Boden geneigt, die Hände in einander verknotet und vor sich hin murmelnd.
Stefano war sich nicht sicher, ob es schlau war, sie aus ihrem tranceartigen Zustand zu holen. Doch er wollte Antworten. Dringend. Unten auf dem Platz lag eine Leiche. Hässlich zugerichtet und durch das Fenster der örtlichen Metzgerei geworfen. Und die Alte schien etwas darüber zu wissen. Zumindest nahm Stefano das, nach ihren Rufen vom Balkon aus, an. Er wollte wissen, was die Alte glaubte gesehen zu haben. Damit das gelang, musste er sich bemerkbar machen, die Alte beruhigen und zum Reden bringen. Er fasste sich ein Herz, atmete tief ein, streckte die Arme aus und legte sie der Alten auf beide Schultern. Abrupt blieb sie stehen, verstummte, zog den Kopf nach oben und blickte Stefano mit weit aufgerissenen Augen direkt ins Gesicht. Stefanos Herz begann umgehend wild zu schlagen. In den Augen der Alten erkannte er nichts andere, als Angst, pure, nackte Angst, an der Grenze zur Panik. Eine Eiseskälte durchfuhr Stefanos Rücken, Übelkeit seinen Magen. „Sie sind wieder da. Sie sind wieder zurückgekehrt“, schnaubte die Alte und sank in Stefanos Armen zusammen. Ihr silber-brauner Rosenkranz dabei zu Boden.
Zu den vorhergehenden Kapiteln:
Kapitel 1: Jeder Tag ein Neuanfang
Kapitel 2: Risse an der Oberfläche
Kapitel 3: Bilder für die Ewigkeit
Kapitel 4: Sie sind wieder zurückgekehrt
Kapitel 5: Ekelhafter Gestank und eine offene Türe