Plattenzeit #39: Kate Tempest – Let Them Eat Chaos

6 Minuten Lesedauer

Aus der Hölle der Poetry-Slams entkommen


Poetry-Slams sind die Hölle. Auf den Trümmern des Hip-Hop werden von meist mindertalentierten Schreiberlingen in publikumswirksamer Weise selbst geschriebene Texte in einem bestimmten Zeitraum vorgetragen. Der Applaus des Publikums kürt den Gewinner. Selten gewinnt der Text und der Vortragende mit den besten und kühnsten literarischen und poetischen Kunstgriffen. Vielmehr stehen scheinbar atemlos-virtuos vorgetragene Texte hoch in der Gunst der Zuhörer und Applaudierer. Auch witzig-charmante Texte kommen meist gut an. Selbst eigene Tagebücher aus der Jugend dürfen manchmal ausgepackt und den anwesenden Gästen zu Gehör gebracht werden.
Tatsächlich entstammt Kate Tempest ebendieser Hölle. Auch ihre Rezitationen sind beliebt und haben wohl den einen oder anderen Poetry-Slam in London und anderswo im Sturm genommen. Sie umschifft aber gekonnt, und das ist wohl ihr größtes Talent, die Abgründe des Mediums Poetry-Slam. Virtuos jongliert sie mit Worten, stellt aber nie ihre eigene Sprach-Virtuosität zur Schau. Ihre Wort- und Vortragskunst dient ihr dazu Intensität und Sogwirkung zu erzeugen. Statt literarischer Mitteilungssucht oder gar Tagebuch-Poesie gelingen ihr präzise und konzise Kleinode voller Alltagsbeobachtungen.
Dem Kontext der Poetry-Slam-Hölle entkommt sie dabei sogar noch mehr, wenn sie ihre Spoken-Word-Performances mit Musik untermalen lässt. Auf „Let Them Eat Chaos“ weiß sie sich für diese Aufgabe mit den richtigen Menschen zu umgeben. Der Produzent Dan Carey hat dem wenig optimistischen Szenario auf ihrem aktuellen Album Beats, Sounds und Elektro-Spielereien zur Seite gestellt und diese Kate Tempest auf den rappenden Leib zugeschnitten.


Zeichen und Zeit


Dabei ist es durchaus üblich, dass sich Poetry-Slammer und -Slammerinnen ein zweites Standbein zulegen. Man denke dazu nur an die österreichische Spar-Ausgabe von Kate Tempest, die auf den Namen Mieze Medusa hört und sich selbst auf ihrer Homepage als „Pionierin der österreichischen Poetry-Slam Szene“ bezeichnet. Im direkten Vergleich von Weltklasse und Österreich-Klasse zeigen sich aber signifikante Unterschiede. Auch die Österreich-Ausgabe legt sich mit Tenderboy einen Produzenten zu und macht mit diesem gemeinsam hip-hoppende Musik. Dabei bleibt es aber auch. Tempest transzendiert hingegen klare und allzu eindeutige Genre-Zuschreibungen.
Das liegt auch und vor allem an der Musik. Eindrucksvoll gelingt es dieser sich aus verschiedensten Genres zu bedienen und sich dennoch nicht in den Vordergrund zu spielen. Ein Elektro-Hip-Hop-Funk-Rock-Pop-Hybrid wird dem Zuhörer nicht um die Ohren gepfeffert, sondern subtil und doch dringlich nahegelegt. Kate Tempest ist der Star der Platte. Ihren großartigen Texten soll nicht die Show gestohlen werden. Dabei ist die Musik weder bescheiden, noch unbedeutend, noch wesentlich uninteressanter als der Text-Vortrag von Tempest.
Die Musik setzt, manchmal fast schon unbemerkt, Stimmungen und erfüllt damit oftmals punktgenau die Vorgaben der Texte von Tempest. Sie ist aber nicht deren unterwürfiger Diener, sondern treibt auch die Texte voran, nimmt vorweg, konterkariert. Zeichen und Musik gehen eine geheimnisvolle, komplexe und schwer zu beschreibende Symbiose ein.
Das Album „Let Them Eat Chaos“ will insgesamt nicht selbstverliebte Schau des dunklen und chaotischen Innenlebens von Tempest sein. Tempest etabliert vielmehr Figuren, die allesamt um 4:18 in London in einer ganz bestimmten Straße nicht schlafen können. Diese Schlaflosigkeit nutzen sie um sich Gedanken zu machen oder Bier zu trinken. Dabei wird das Kind oftmals mit dem Bade ausgeschüttet und die USA, Europa und London als gänzlich verloren bezeichnet. 4:18 ist schließlich keine Zeit, um sich vernünftig und maßvoll ein paar kleine Gedanken zu machen. In der Zwischenwelt von Nacht und Tag geht es um das große Ganze und um Alles.
Das alles hätte durchaus Potential dazu zum hyper-politischen Hysterie- und Moral-Blödsinn zu werden. Mit ihrer Art der Radikal-Empathie gelingt Tempest aber Großes. So groß, dass sie mancherorts von Journalisten schon zum Bob Dylan der Gegenwart hochstilisiert wird. Obwohl das natürlich wiederum Unsinn ist, lässt sich dieser Vergleich funktional als durchaus passend etablieren.
Tempest beobachtet vorrangig, lässt am Rande der Gesellschaft stehende Protagonisten zu Wort kommt, skizziert sie liebevoll mit einem Übermaß ein Einfühlungsvermögen. In ihren Forderungen für eine bessere Welt bleibt sie, Gott sei Dank, recht kryptisch, uneindeutig und der Ambiguität der Kunst verpflichtet. Sie ist also womöglich ein weiblicher Bob Dylan der Jetzt-Zeit, wenn es um die Beobachtungsgabe geht. Zeitgeistig ist sie aber in der Hinsicht, als dass sich kein klares politisches Programm ableiten oder gar handfeste Proteste von ihrer Musik ausgehend anzetteln lassen.


Fazit


„Let Them Eat Chaos“ ist ein Meilenstein, wenn es um die Musikwerdung des gesprochenen Wortes geht. Virtuos-intensiv, transzendental-grenzenlos und sprachlich und rhythmisch brillant wagt sich Tempest weiter hinaus als vergleichbare Konkurrenten und Konkurrentinnen. Wer das gesprochene Wort schätzt, Beats mag und lyrische Brillanz schätzt, sollte seine Zeit nicht mit anderen Künstlerinnen und Künstlern aus diesem Bereich verschwenden, sondern gleich zur  Besten dieser Klasse greifen. Und diese ist zweifellos Kate Tempest.


Zum Reinhören



Titelbild: (c) Jenny McCambridge, Bearbeitung: Felix Kozubek

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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