Plattenzeit #46: Marvin Gaye – What´s Going On

6 Minuten Lesedauer

35:28 für die Liebe Gottes


Religöser Eifer hat oft nicht den besten Ruf. Platten, die uns bekehren wollen mögen wir meist nicht. Das war Marvin Gaye offenbar völlig gleichgültig. Der damals schon nicht unberühmte Sänger veröffentlicht am 21.05. 1971 sein Album „What´s Going On“. In seinem Begleittext schwafelt er nicht lange herum: „Find God: we´ve got tot find the Lord. Allow him to influence us. I mean what other weapons have we to fight the forces of hatred and evil.“ Damit nicht genug. Gaye empfiehlt gar noch sich die 10 Gebote genau anzusehen. Schließlich beendet er seine Ausführungen mit einem Dank an Jesus. Um Himmels Willen!
Erstaunlicherweise haben sehr wenige Menschen die Platte aufgrund dieses Leitfadens links liegen gelassen. Die Platte wurde von Kritikern geliebt und sogar sehr gut verkauft. Eine Sachverhalt, der im Hier und Jetzt immer seltener vorkommt. Bereits die ersten Töne machen auch im Heute noch klar, warum das so war: „What´s Going On“ vereint Dringlichkeit und Sanftheit auf einem Niveau, wie man es zuvor und danach nur mehr selten gehört hat.
Um das zu erreichen verwendet Gaye einen Kunstgriff. Bisher war Gaye kaum mit politischen Inhalten aufgefallen. Viel stärker hingegen mit schönen, gefühligen Motown-Songs. Wie aus heiterem Himmel versetzt sich derselbe Gaye auf diesem Soul-Meisterwerk in die Rolle eines heimkehrenden Vietnam-Veteranen. „Mother, mother/ there´s too many of you crying/ Brother, brother, brother/ there´s far too many of you dying“ hebt ihr mit süßlich-melancholischer Stimme gleich im ersten und titelgebenden Lied an. Die Adressaten sind somit gleich zu Beginn deutlich geworden: Die Mütter, die um ihre gefallenen Söhne trauern und seine „Brüder“, von denen deutlich zu viele gestorben sind.
Bemerkenswert ist die Abwesenheit von Hass und bodenloser Verzweiflung. Wenig später im gleichen Lied macht stellt Gaye quasi sein ästhetisches Programm vor: „We don´t need to escalate“ und „…only love can conquer hate“. Das wiederum bedeutet keineswegs, dass der Protagonist des Albums in den nächsten 30 Minuten Minuten nicht doch noch Zweifel und Verzweiflung verspüren wird. Aber es zeigt, wie sich Gaye selbst eine Überwindung des Hasses vorstellt und mit welchen künstlerischen Mitteln diesem zu begegnen ist.
Gaye stellt die eindringliche Sanftheit seiner Botschaften über eine lautstarke und penetrante Vehemenz. Mit dem Kontrast von Text und Stimme erzeugt er damit eine enorme Wirkung. Im Verlauf des Albums wird auch noch Gott gehuldigt und zur Rettung von Kindern aufgerufen. Das alles gelingt ihm auf künstlerischer Ebene ganz ohne Pathos und Kitsch. Seine Aussagen und Anliegen sickern ein, drängen sich aber nicht auf. Einmal mit den ureigenen Mitteln von Gaye eingesickert lassen sie einen aber nicht mehr los.
Natürlich lässt sich bei alldem Gott ausblenden. Es lässt sich geflissentlich ignorieren, wozu Gaye seine Leser und Hörer in seinen eindringlichen Worten zur Platte auffordert. Dann ließe sich nur allzu leicht sagen, dass die Platte auch für nicht-religiöse Menschen bestens funktioniert, weil sie dazu in der Lage ist universell zu berühren und universelle Themen anzusprechen. Dieser Zugang bleibt nur leider schal und unbefriedigend.
Mit Gott, den man hier bitteschön beim Wort nehmen sollte, steht Marvin Gaye ein mächtiges Werkzeug zur Seite. Ein bisschen Bibelfestigkeit kann in dieser Hinsicht nicht schaden. Nicht umsonst hört man Jesus in der Bibel sagen: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Gaye hat also nicht zuletzt eine andere, bessere Welt im Sinn, die es auf dieser Erde gar nie geben wird. Mit diesen utopischen, außerweltlichen Ideen versucht er ein Stück vom Himmel in das wenig himmlische Amerika der frühen 70er zu bringen. Sein Gottglaube gibt ihm eine gewisse Gelassenheit, dass alles gut werden wird. Nicht der Protoganist des Albums allein muss die Welt retten. Er hat Gott an seiner Seite und kann einiges an Arbeit dem Herrn selbst überlassen. In seiner Stimme ist dieses Urvertrauen hörbar. Das berührt und rührt an.


Fazit


„What´s Going On“ sollte man baldigst wiederhören. Die Magie, die diese sanfte und zutiefst berührende Platte verströmt bleibt nicht auf den damaligen Zeithorizont und den damaligen Kontext beschränkt. Die Direktheit der Platte fängt einem bei jedem Hören. Egal ob man schwarz oder weiß ist, Krieg selbst miterlebt hat oder nicht, an Gott glaubt oder nicht. Dennoch sollte man sich ganz auf die Gedankenwelt von Gaye einlassen und seinen Glauben ernst nehmen. Nur dann werden die Bedingungen und Bedingheiten dieses Meisterwerks wirklich sichtbar.


Zum Reinhören



Titelbild: (c) das_1980, Flickr.com, Bearbeitung: Felix Kozubek

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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