Plattenzeit #55: GAS – Zauberberg

4 Minuten Lesedauer

Verrauscht


Ambient ist die Musik der relativen Ereignislosigkeit. Zumeist tritt diese in Kombination mit einem erweiterten Zeitbegriff auf. Konzise, dreiminütige Popsongs sind nicht Teil des Spiels. Das allein schon mal deshalb, weil Ambient im eigentlichen Sinne gar nichts „erzählt“ und erreichen will, sondern sich räumlich und klanglich breit macht und sich viel Zeit lässt. Die Form ist das Ziel. Die Verflüssigung ebendieser ist ein Hauptanliegen.
Wolfgang Voigt und sein Hauptprojekt GAS füllen diesen an sich simplen Rahmen auf hochinteressante Weise. Voigt bedient sich ebenso sehr bei Versatzstücken des Ambient wie des Minimal-Techno und benutzt als Futter für seine Songs einiges an klassischer Musik, bevorzugt Richard Wagner. Wagner nimmt er seinen Pathos, die Klimax, den unbedingten Willen beeindrucken, seine Zuhörer mitzureißen berühren zu wollen. Mit dem Verfahren von GAS wird Wagner plötzlich flüchtig, unerreichbar und fern. Meist tauchen nur kleine Bruchstücke auf während der Beat weiterhämmert und alles im Rauschen und im Kratzen unterzugehen droht.
Obwohl auf „Zauberberg“ der 4/4 Beat alles an sich reißt ist dieser hier nicht als Einladung zum Tanz zu verstehen. Alles klingt als gäbe es eine ekstatische Party, aber halt einen Stock höher, bei den coolen Nachbarn, die sich zu stampfender Musik auch noch jede Menge Drogen einpfeifen. Man selbst sitzt zuhause und hört klassische Musik, in einem desolaten Zustand. Die eigene Erschöpfung ist so groß, dass die Aufmerksamkeitsspanne extrem nachgelassen hat. Bis auf ein paar Fragmente wird man der im eigenen Zimmer laufenden Musik nicht mehr habhaft.
Langsam sinkt man hinab und lässt sich vom Rauschen und vom Kratzen von „Zauberberg“ berauschen. Die Müdigkeit wird von einer Schwäche zu einer Stärke. Man hört nicht mehr auf einzelne Elemente und will diese greifen, verstehen und in ihrer Herkunft verorten, sondern sieht sie im Gesamtklang untergehen. Der Sog der Musik steigert sich. Man ist weder auf der Party noch im eigenen Zimmer. Eine eigene Klangwelt ist eröffnet, die Unterscheidungen wie Hier und Da oder Nah und Fern hinfällig macht.
Über die gesamte Spieldauer von 65 Minuten spielt Voigt alias GAS mit den Prämissen und Vorannahmen des Ambient. Die relative Ereignislosigkeit deutet er um in eine seltsame Spannung, die keine wirkliche Steigerung kennt. Nichts kulminiert, nichts staut sich auf, alles ist schon immer da und stets präsent. Doch die Erwartungshaltung des Hörers nimmt auch noch so kleine Unterschiede und Veränderungen in den Tracks wahr und deutet diese fälschlicherweise als Zeichen der Erlösung und Auflösung. Das alles tritt nicht ein. „Zauberberg“ könnte statt einer Stunde auch zwei Stunden laufen. Zeit ist hier relativ, Höhepunkte rar. Man kann sich also entspannen, aufhören zu suchen und sich einfach nur treiben lassen.


Fazit


Nicht umsonst werden die GAS Alben kultisch verehrt. „Zauberberg“ nimmt unter diesen Alben für viele sogar noch eine Ausnahmestellung ein. Das Album ist leider nicht mehr oder nur zu horrenden Preisen erhältlich. Aber Wolfgang Voigt lässt sich demnächst als GAS beim „Heart Of Noise“ in Innsbruck erleben. Mit „Narkopop“ hat der Meister nämlich gerade wieder nach weit mehr als einem Jahrzehnt sein GAS-Projekt wiederbelebt. Noch immer ist seine Musik ein Ereignis im Geiste der Ereignislosigkeit.


Zum Reinhören


 Titelbild: (c) Christian Kadluba, Bearbeitung: Felix Kozubek

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

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