Björk
Zahlreiche Geschichten umranken das aktuelle Album von Arca, der eigentlich Alejandro Ghersi heißt und in Venezuela geboren wurde. Eine der schönsten Erzählungen handelt von einer Autofahrt mit Björk, deren letztes Album „Vulnicura“ Arca produziert hat.
Björk und Arca sitzen also gemeinsam in einem Auto und trällern Lieder. Das bringt Björk dazu den guten Alejandro, bis dahin ja „nur“ als Produzent und Beatmacher etwa bei FKA twigs oder Kanye West auffällig geworden, zu Gesang auf seinen zukünftigen Platten zu ermutigen. Arca gehorcht – und singt. Was Björk sagt und vorschlägt, hat Hand und Fuß. Schließlich ist die Frau eine Avant-Pop-Legende.
Von seiner Arbeitsweise insgesamt weiß selbige Dame Wunderbares zu berichten. Sie kenne niemanden, der so schnell produziere, meint sie etwa. Auch beim sich derzeit in Produktion befindlichen kommenden Album von Björk darf er wieder Hand anlegen. Das ist bei Björk eher eine Seltenheit. Früher wechselte sie die Produzenten so oft wie ihre Liebhaber – und manchmal waren die Produzenten auch ihre Liebhaber. Arca, bekennend homosexuell, fällt zumindest als Liebhaber von Björk aus. Aber das allein kann nicht die Dauerhaftigkeit dieser Musikbeziehung erklären. Es hat wohl vor allem mit seinem enormen Talent zu tun.
Orgasmus und letzter Atemzug
Auf seinem aktuellen, passenderweise selbstbetitelten Album, schüttet er sein übervolles Talent-Füllhorn generös aus. Rein musikalisch hat er sich dabei gar nicht so weit von den abstrakten und abgedrehten Elektro-Frickeleien seiner früheren Veröffentlichungen weg bewegt. Mit seiner Stimme kommt allerdings ein unerhörter Störfaktor in die intelligent gemachten Soundgemälde. Er habe im Studio improvisiert, meint Arca selbst. Die Texte hatte er nicht vorformuliert. Er sang, was ihm im jeweiligen Augenblick in den Sinn kam. Dabei entstanden zahlreiche Takes, von denen wohl die besten, interessantesten und verstörendsten den Weg auf das Album gefunden haben.
Die Platte klingt insgesamt sakral-pathetisch, aber niemals religiös. Es sei denn, der „Gay Messiah“, von dem Rufus Wainwright vor vielen Jahren sang, wäre jetzt endgültig unter uns und es wäre dadurch eine neue Religion entstanden. Dann wäre „Arca“ der perfekte Soundtrack für eine enthemmte, grundschwule und hochdramtische religiöse Bewegung.
Arca fand seine Inspiration jedenfalls nicht in der herkömmlich-katholischen Kirche. Da er seit 2014 in London lebt war es vielmehr ein ganz besonderer Ort in dieser Stadt. Des Nachts verlief sich Arca wohl ganz bewusst auf Inspirationssuche auf einen Londoner Friedhof, der auch als Schwulentreff bekannt ist. Von dieser düster-morbiden und doch sexuell aufgeladenen Stimmung erzählt sein Album.
Im Video zu „Reverie“ kämpft Arca mit sich selbst. Er ist ein seltsames Hybrid-Wesen aus Matador, Schwulen-Ikone und Roboter. Die Musik ist eine perfekte Entsprechung für dieses Bild. Die Stimme von Arca windet sich, Leiden als Hauptmotiv wird groß geschrieben, die Beats pluckern dazu.
Im Verlauf des Videos merkt man, gelinde gesagt, dass es dem Protagonisten des Videos nicht besonders gut geht. Blut im Bereich des gekonnt ins Szene gesetzten Hinterns von Arca ist schließlich nie ein gutes Zeichen. Auch im Video zu „Anoche“ finden wir uns nicht auf einer schönen Blumenwiese an einem Sommertag wieder. Arca tanz lasziv und umschmiegt sehnsüchtig tote Körper. Der Kontrast des höchst lebendigen und begehrenden Tänzers zum omnipräsenten Tod lässt Arca noch verführerischer erscheinen.
Das blühende Leben wird bei „Arca“ immer wieder in Kontrast zum Tod gesetzt. Lebe jeden Tag, als wär´s dein letzter – so könnte eine banale Weisheit lauten, die sich aus dieser grandiosen Platte ziehen ließe. Doch es geht um mehr. Ficken und sterben sind in ein morbides und dabei höchst faszinierendes Naheverhältnis gerückt. Orgasmus und letzter Atemzug sind sich so nahe wie selten.
Fazit
Über „Arca“ wird man noch lange reden. Nicht nur wegen der verstörenden und grandiosen Video-Clips. Die Musik ist liebevoll und detailliert ausgestaltet, produktionstechnisch ist Arca auf dem neuesten Stand der Möglichkeiten und nimmt zum Teil vorweg, wie avancierte Popmusik in nicht allzu ferner Zukunft klingen könnte.
Seine Stimme berührt tief, auch nach mehrmaligem Hören und nach dem Verblassen des anfänglichen Überraschungseffektes. Mit der Zeit schälen sich aus der ersten Überwältigung durch das Gesamterlebnis herausragende Songs heraus, die man kaum mehr aus dem Kopf bekommt. Arca hat somit alles erreicht: Ein intelligentes Elektronik-Album mit tiefen Emotionen und grandiosen Songs. Mehr geht in diesem Bereich echt nicht.
Zum Reinhören
Titelbild: (c) Screenshot You-Tube "Reverie", Bearbeitung: Felix Kozubek