Es gibt Bilder und Vorstellungen, die global funktionieren. Das ist im Übrigen der Anspruch von Kino. Meistens steht er der eigenen Erfüllung selbst im Weg. Die großen Narrationen interessieren im Letzten kein Schwein mehr und müssen mit allerhand synästhetischen Effekten aufgeblasen werden.
Zwischen hinkenden Metaphern und lahmen Botschaften schleppt sich der Kintopp dahin, gleichzeitig bis zum Anschlag gemästet und hungernd, ja, geifernd nach Bedeutung. Kein Wunder, dass er sich dem Konsumatorischen verpflichtet hat und sich schwer tut, den Zuseher ein wenig darben zu lassen, ihm ein wenig Anstrengung, eigenes Denken und subjektiven Bezug abzuverlangen.
Denn wenn wir über unsere eigene Faszination für das Kino nachdenken, ist es doch nicht wirklich das unmittelbar Eingängige, Vertraute, Bestätigende, das wir daran lieben. Es ist das Andere.
„Mit einem Film kann man die Erfahrung machen, ein anderer zu sein, woanders zu leben, einer anderen Kultur anzugehören, Mann zu sein, wenn man Frau ist, Frau zu sein, wenn man Mann ist, alt, wenn man jung ist, jung, wenn man alt ist, schwarz wenn man weiß ist, weiß wenn man schwarz ist, Taiwanese, wenn man Pariser ist, New Yorker, wenn man aus der Ardèche kommt“, sagt Alain Bergala, Frankreichs größter Kinoliebhaber.
Eine ganz neue Erfahrung ist auch Wolf & Sheep von Shahrbanoo Sadat. Die erst 26-jährige Afghanin hat einen zarten, ruhigen und deshalb umso stärkeren Film über ein archaisches Motiv – Wolf und Schaf – gedreht. Und das mit der klaren Absicht, dem Bullshit, den die internationalen Medien in der Afghanistan-Berichterstattung verzapfen, etwas anderes entgegenzusetzen.
Eine späte Entdeckung…
AFEU: Erste Frage, hast du einen Lieblingsfilm?
Shahrbanoo Sadat: Es gibt viele Filme, die ich mag. Ich war 20, als ich meinen ersten Film in der Cinémathèque in Paris gesehen habe. Ich habe den Film erst spät für mich entdeckt. Seither habe ich natürlich eine Menge Filme gesehen, aber ich habe keinen Lieblingsfilm. Ich mag „Das Piano“ von Jane Campion, und Terrence Malick.
AFEU: Du bist dieses Jahr Jurymitglied beim Internationalen Filmfestival Innsbruck. Glaubst du, dass es Kriterien für gute Filme gibt, oder ist das eine ganz emotionale Sache?
Sadat: Ich glaube, es geht darum, eine Verbindung zum Film herzustellen. Die Filme hier sind aus ganz unterschiedlichen Teilen der Welt. Was für mich wichtig ist, ist diese Verbindung. Wenn ich ins Kino gehe, versuche ich offen für Botschaft des Filmes zu sein. Da geht es natürlich um die Bilder, den Sound. Aber es geht mir vor allem um die Geschichten, um Inhalt, um den Hintergrund der Filmemacher.
… und eine frühe Erinnerung
„Wolf and Sheep“ will etwas Unmögliches sein: Die Dokumentation einer Erinnerung. Der Erinnerung an eine schwierige und doch reiche Kindheit in der afghanischen Pampa, unter Schafen, Ziegen und gestrengen Erwachsenen. Weil sich herausstellte, dass Sadat nicht in ihrem Heimatdorf würde drehen können und die Kulisse deshalb nachbauen musste, arbeitete sie im ständigen Gefühl „Nothing is serious, nothing is real“, wie sie im Interview sagt. Das ist nun mal die Conditio des Films. Nichts zu machen. Und doch zeigt Wolf & Sheep etwas Reales, auch wenn es inszeniert ist. Es ist ein Film über den Alltag; nicht nur über die Routine, sondern über das, was an allen Tagen Bedeutung hat.
Die sechs Kinder, die die eigentlichen Hauptrollen haben, sind so rotzfrech, so vulgär, so schwierig, so liebenswürdig, wie man es nicht erfinden und nicht inszenieren kann. Sie sind Hirten, sie tragen Verantwortung, sind permanent in der Wildnis unterwegs – und sie wissen sich zu helfen. Ein starkes Porträt in Zeiten von ausschließlich politisch korrekten und pädagogisch tadellosen Disney-Moralkeulen.
AFEU: Was mir an deinem Film so gefallen hat ist die Art, wie die Kinder dargestellt werden. Ich bin eigentlich der Meinung, dass es keine Grenze zwischen Filmen für Kinder und solche für Erwachsene gibt. Wolf & Sheep ist da ein wunderbares Beispiel.
Sadat: Was mich überrascht hat ist, dass der Film bei manchen Festivals einen „Over 18“-Vermerk bekommen hat, weil er gewalttätig sei. Was für ein Blödsinn!
Ich fände es extrem wichtig, dass zum Beispiel Kinder in Österreich das Leben von Kindern in Afghanistan zu sehen bekommen und lernen, ihre eigene Situation besser zu verstehen.
AFEU: Also richtet sich dein Film auch an Kinder?
Sadat: Natürlich. Für mich gibt es keine Abgrenzung zwischen Fiktion und Dokumentation und auch nicht zwischen Kinder- und Erwachsenenfilmen – vor allem, wenn Kinder mitspielen.
Das andere Afghanistan
In einer Zeit, da man im Nicht-Staat am Hindukusch um eine nationale Identität kämpft, die nicht vom Westen aufoktroyiert ist, dokumentiert Sadat das, was Afghanistan im Innersten ausmacht. Für sie selbst war das Leben in ihrer Heimat oft alles andere als einfach.
Sadat: In Afghanistan gibt es praktisch keine Individualität. Die Menschen leben in einer Gemeinschaft und die Gemeinschaft definiert so vieles. Wenn man ein paar Jahre an einem Ort gelebt hat und den Leuten eine Frage stellt, weiß man schon fast, was die Antwort sein wird. Wenn man diesem Stil treu bleibt, ist es sehr einfach, ein Drehbuch zu schreiben. Es war fast wie ein Spiel.
AFEU: Das macht es dann sehr leicht, in einer solchen Gemeinschaft zum Außenseiter zu werden.
Sadat: Ja, wenn man nicht so antwortet, wie man sollte. Auch in der Stadt, sogar in Kabul ist das so. Wenn du deine Individualität ausdrücken willst und deine eigenen Antworten gibst, wirst du zum Außenseiter.
Auf die Frage, ob der Film auch feministische Anklänge hat, reagiert Shahrbanoo Sadat – zweifellos emanzipiert und dazu irre cool – etwas gereizt. Der Feminismus ist Teil des selbstgerechten Erziehungsprogramms, das westliche NGOs in Afghanistan durchziehen will. Er hat nicht viel mit dem „anderen“ Afghanistan zu tun, dem ihr Herz gehört. Da werden Geschlechterrollen und Fragen der Sexualität – wie im Film – gerne über Fiktionen ausverhandelt. Ungleich viel spannender.
AFEU: Legenden und Mythen haben oft mit dem Unbewussten einer Gemeinschaft zu tun. Was sagt die Legende des Kaschmirwolfs über die ländliche Gesellschaft in Afghanistan?
Sadat: Es gibt zwei Ängste: Vor der Dunkelheit und vor Wölfen. Es gibt unglaublich viele Geschichten darüber, weil das eine sehr alltägliche Angst ist. Die Menschen sind Schafhirten. Das sagt sehr viel über die Gesellschaft. Geographisch gesehen gibt es sehr viele Berge, und die Menschen leben in Tälern. Sie wissen nicht, was jenseits der Berge im nächsten Tal ist und wollen auch nichts damit zu tun haben. Es gibt eine große Angst vor dem Fremden. Die Leute sind auch ungebildet. Deshalb ist die mündliche Tradierung sehr wichtig, und von jeder dieser Geschichten gibt es hunderte Versionen, weil jeder sie anders erzählt.
AFEU: Das kommt auch im Film heraus.
Sadat: Genau. Und was ich an dieser Version der Geschichte so gerne mag, ist dass der Kaschmirwolf, der eigentlich als Ungeheuer dargestellt wird, in Wirklichkeit eine Fee ist. Afghanistan ist ein islamisches Land, und ich finde den Gedanken so schön, dass der Kaschmirwolf eine nackte Frau ist.
Das naturverbundene, langsame Leben einer afghanischen Hirtengemeinschaft mit ihrer tiefgreifenden Angst vor Wölfen ist etwas anderes. Und doch ist es, als Erfahrung im Kino, unmittelbar verständlich und berührend. Das ist, wenn es schon eines geben muss, mit Sicherheit eines der besten Kriterien für einen richtig guten Film. Er sagt nicht: So ist das Leben. So sind die Menschen. Sondern: So kann das Leben sein. Du bist in deinem eigenen nicht gefangen.
Titelbild: (c) IFFI