Um den weiteren Verlauf der Geschichte verstehen zu können, muss ich kurz ein wenig ausholen. Irgendwo in Italien gibt einen sehr populären Reiseführer, der den Fahrradweg zwischen Innichen (Südtirol) und Lienz (Osttirol) als absoluten Hotspot anpreist. Selbst Luca Cordero di Montezemolo, der italienische Auto-Papst und ehemalige Ferrari-Chef, reiste einst mit einer Heerschar an Reportern an, um die wunderschöne Fahrradstrecke zu erleben. Tausender Italiener machten und machen es ihm gleich und walzen in Fünfer-, Sechser-, Siebener-, Achter-, Neuner- und Zehnerreihen per Rad von Südtirol in Richtung Lienz. Wer in Osttirol aufgewachsen ist und sich im August einmal auf den Drauradweg verirrt hat, wird dies kein zweites Mal tun. Wenn die Walze einmal rollt, dann rollt sie, egal wer sich ihr in den Weg stellt. Mama, Papa, Nonna, Nonno, Kinder, mitlaufende Hunde. Gestoppt wird erst am Ziel. Meine Freundin, die ich mittlerweile meine Verlobte nennen darf, wollte meinen Erzählungen nicht glauben. So schlimm könne das doch gar nicht sein. Das ging recht lange so, bis zu jenem Ereignis. Am vergangenen Wochenende wurde aus der ungläubigen, innerhalb weniger Minuten, eine streng gläubige Frau.
Dienstagnachmittag, Feiertag. Nach einer ausgiebigen Bergtour in den Lienzer Dolomiten, soll das Lienzer Schwimmbad für Abkühlung sorgen. Ich, selbst kein großer Freund von abkühlenden, nassen Erlebnissen, bleibe zu Hause und lege mich eine Stunde aufs Ohr. In eben jener Zeit passiert etwas, das man im religiösen Kontext wohl als göttliche Fügung, als Moment des Erkennens oder als teilweise Erleuchtung beschreiben würde. Nur so viel. Auf dem Weg zum Lienzer Schwimmbad kreuzt man den Drauradweg. Meine Freundin, eine durchaus besonnene Autofahrerin und immer in der Absicht niemanden zu verletzten, fährt langsam und aufmerksam. Das war gut so. Im Schritttempo rollt sie um die Ecke in Richtung Schwimmbad, als sich die Walze nähert. Wir wissen, gestoppt wird erst am Ziel. Die Walze ignoriert die, den Drauradweg kreuzende Bundesstraße und wälzt unaufhörlich vor sich hin. Das Schauspiel, das sich meiner Lebenspartnerin nun bietet, muss beeindruckend und verstörend gewesen sein, immerhin entschließt sie sich wenige Minuten später zum Telefonhörer zu greifen und mir davon zu berichten.
Bleiben wir vorerst aber bei der Szene. Meine Freundin sitzt im Auto, leicht bergauf stehend, die Italiener-Lawine vor Augen. Immer wieder lässt sie den Motor erklingen, um sich bemerkbar zu machen. Keine Reaktion. Wieder ein Tritt aufs Gas. Das Auto rückt wenige Zentimeter vor. Keine Reaktion. Mittlerweile hat sich der Fahrrad-Strom verbreitert und fließt vorne und hinten am Auto vorbei. Es nimmt und nimmt kein Ende. Im Gegenteil. Je länger das Auto steht, umso mehr beräderte Italiener scheinen es zu werden. Die Minuten vergehen, der Frust wächst. In einem Anflug von Ärger öffnet meine Freundin das Fenster, schreit „Scheiß Italiener“ und ballt die Faust. Unachtsam, wie man bei einem Anflug aus Frust, Wut und Ungeduld eben einmal ist, rutscht der Fuß ab und trifft das Gaspedal. Das Auto macht einen großen Satz nach vorne und begräbt mehrere Italiener unter sich. Mamas, Papas, Nonne, Nonni, Bambini und auch Hunde schreien. In Panik geraten verkrampft sich der Fuß meiner Lebensgefährtin und steigt weiter aufs Gas. Nur die rechte Hand will instinktiv helfen und legt entgegen jeder mechanischen Logik, gänzlich ohne Bedienung der Kupplung, den Rückwärtsgang ein. Wieder erwischt es Fahrräder und Italiener. Noch lauteres Geschrei.
So ist das natürlich nicht passiert. Aber als mir meine Freundin von ihrem Erlebnis erzählt, wie sie gute zehn Minuten auf der Bundesstraße steht und den nicht enden wollenden Fahrradstrom beobachtet, denke ich mir, an ihrer Stelle wäre ich nicht ruhig geblieben. Wahrscheinlich hätte ich das Fenster geöffnet, wahrscheinlich hätte ich etwas Beleidigendes hinaus gerufen, wahrscheinlich hätte ich … gut, dass ich keinen Führerschein habe. Hätte ich einen und wäre die Geschichte, die ich oben beschreibe, wirklich so passiert, was wäre dann geschehen? Rettung, Feuerwehr und Polizei wären angerückt. Meine Freundin wäre unter Arrest gestellt und vor Gericht geführt worden. Ermittler und Presse hätten bei mir und bei ihren Eltern angerufen und sich über meine Freundin erkundigt. Ist sie religiös? Gab es irgendwelche Anzeichen? War es eine geplante Aktion? Ging sie oft in die Kirche? Zu welchen Menschen hatte sie Kontakt und welche Bücher las sie?
Wahrscheinlich wäre es nicht förderlich gewesen, dass wir Anfang des Jahres zehn Tage auf Sri Lanka verbrachten und Fotos von uns beiden existieren, auf denen uns hinduistische und buddhistische Zeichen aufgemalt wurden. Wahrscheinlich wäre es auch nicht förderlich gewesen, dass ich, ihr Lebenspartner also, Mitglied bei einer Musikkapelle bin und wir beim diesjährigen Maifest, das gemeinsam mit der Schützenkompanie ausgerichtet wurde, anwesend waren. Wahrscheinlich würden sich Leute ausfindig machen lassen, die bezeugen, wie wir nach zwei Bieren und einem Marillenschnaps lautstark „Dem Land Tirol die Treue“ mit gegrölt haben. (Anm.: das ist die zweite absurde Szene dieser Geschichte!) Wahrscheinlich würden irgendwelche Facebook-Freunde Seiten liken, die „Ein Tirol“ oder „Südtirol ist nicht Italien“ im Namen tragen. Wahrscheinlich würde all das ein Bild ergeben und nach zwei Tagen in der Zeitung stehen: „Scheiß Italiener! War es ein politisch motivierter Anschlag? Junge Tiroler Aktivistin rast in italienische Touristen-Gruppe.“
Wenige Tage nach dem Ereignis, das so nie passiert ist, sitzen wir beim Abendessen. Meine Eltern sind auch dabei. Wir diskutieren über das Thema Terror. Ja, dieses Thema hat es bis auf unseren Esstisch geschafft. Wir sprechen über die latente Unsicherheit und Vorsicht, die vor ein paar Jahren noch undenkbar war. Meine Freundin erzählt von einem geplatzten Luftballon auf einer 90er Feier, dessen Knall die gesamte Party-Meute zum Schweigen brachte. Mein Vater, der die Fremden lieber zu sich nach Hause einladen, als sie vor Ort besuchen würde, erzählt, dass er sich selbst dabei ertappt, wie sich ab und an „mulmige“ Gedanken einschleichen, wenn südländisch aussehende Männergruppen durch die Stadt streifen. Diese Entwicklung ist in den letzten Jahren geschehen und sie hat unser Leben verändert.
Damit haben die Fanatiker im mittleren Osten ein Ziel erreicht. Wir mit unserer medialen Hetzjagd und den panischen Fragen nach „War es ein Terroranschlag? War es politisch motiviert?“ machen aus jedem psychisch gestörten Einzeltäter einen „heiligen Krieger“, der bewusst entsandt wurde und unser freies Leben, wie wir es über Jahrhunderte hinweg aufgebaut haben, ins Wanken bringen darf.