Bild (c) Pexels
Keiner arbeitet für sich selbst. Sogar hoch eigennützige Betätigungen wie etwa die bestbezahlter CEOs stehen, wenn auch disproportional, in einer gewissen Beziehung zum Allgemeinwohl. Arbeit stellt einen unverzichtbaren Baustein des Sozialen dar. Sie ist sozusagen als erste Erbpflicht jedem Glied der Gesellschaft angeboren und wird, wenn nicht schwerwiegende Gründe dagegen sprechen, von allen eingefordert. Viele verschiedene Formen der Betätigung ringen gar um die Attribuierung als Arbeit und wollen sich scharf vom Ruch der Freizeitbeschäftigung abgrenzen, bestehen doch Grafikdesignerin und Bademeister auf dieselbe Anerkennung wie Chefköchin und Bauarbeiter.
Unsere „Welt der Bienen-Arbeitsmoral“ kennt nur eine Todsünde: Den Müßiggang. Ihr gegenüber haftet als nicht entschuldete Arbeitslosigkeit der Generalverdacht des Verrats an der gemeinsamen Verpflichtung an. Selbst Persönlichkeiten, die sich ideell, materiell oder physisch in einer Position befinden, in der sich besagte Erbpflicht kommunaler Beschäftigung nivelliert – denken wir hier an einen tibetischen Einsiedlermönch, Bill Gates oder Stephen Hawking – begleitet zumindest die Erwartung, gewonnene Zeit und damit verbundene Freiheit sinnvoll zu nutzen. Sinnvoll meint in diesem Bedeutungszusammenhang wiederum einen Letztbezug zur Menschheitsfamilie, m.a.W. ein Mindestmaß an Solidarität mit der arbeitenden Mehrheit der Bevölkerung.
Müßiggang – als Ignoranz der natürlichen Verantwortung und gegenseitigen Verwiesenheit aller Menschen – wäre, selbst bei beträchtlichem Eigenkapital oder einer Biografie voller Errungenschaften, weitgehend als verwerflich anzusehen und stünde sogar in Spannung mit dem in der liberal-kapitalistisch westlichen Hemisphäre vorherrschenden Menschenbild, das Sinn und Wert des Menschen an Fähigkeit und Ausübung seiner, im doppelten Wortsinn, ‚kreativen‘ Kompetenzen bindet. Müßiggang erscheint in einer Welt der notwendigen Arbeit besonders prekär, weil sie das rechtmäßige Verhältnis von Arbeitspflicht und Recht auf Erholung willkürlich aushebelt.
Recht auf Erholung als natürliches Pendant zur Arbeitspflicht fand sich nicht immer innerhalb derselben Person gebündelt. In feudalen Systemen ergab sich das Recht der Oberschicht auf ein erholsames Leben aus der Arbeitspflicht der Unterschicht. Gerechtfertigt hat man diese, von Marx als Entfremdung apostrophierte Aufspaltung von Leistung und ihrem Ertrag mit einer als gottgegeben verstandenen Gesellschaftsfunktion, die nicht zuletzt mit religiös gestützten Jenseitsvertröstungen über die Jahrtausende aufrechterhalten werden konnte. Analog dazu sehen wir heute beispielsweise Spitzenmanager von Großkonzernen oder erfolgreiche Anlagegewinnler in demselben Genuss.
Als Errungenschaft der sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts erfuhren Arbeitspflicht und Erholungsrecht in Form der Arbeiterrechte wieder eine Fusion, postuliert für ein und dieselbe Person. Die Ansicht, Erholung als Ausgleich und Wechselwirkung zur Arbeit zu verstehen, wandelte sich jedoch schlagartig. Arbeit wurde mehr und mehr als notwendiges Übel, Erholung hingegen als Ziel aller Strapazen definiert. Schon der Begriff ‚work-life-balance‘ legt nahe, dass das eigentliche Leben, außerhalb der Arbeitszeit stattfindet. Arbeit selbst sei kein Leben. Erholung wird prompt zum Lebensinhalt und Wohlstandskriterium, worauf die Wirtschaft mit unzähligen Freizeitmöglichkeiten, vom genüsslichen Badeurlaub bis zu teuren und aufwendigen Extremsportarten antwortet, bzw. als Anreiz noch mehr Überstunden rechtfertigt.
Müßiggang, wie sie beispielsweise im Fall von selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit unterstellt wird, trennt die hart erkämpfte Vereinigung, bzw. schließlich als Kausalität verstandene Folge von Arbeitspflicht und Erholungsrecht erneut. Der „Sozialschmarotzer“ genieße das Erholungsrecht auf Basis der Arbeitspflicht der Arbeitenden, gleichsam als illegitimer Feudalherr, wenn auch in eingeschränktem Maß. Das Sozialsystem werde somit zum Katalysator des Unrechts. Während die einen unter dem notwendigen Übel der Arbeit litten, genössen die anderen unbescholten deren Früchte.
Aus der bisherigen Überlegung erschließt sich, dass Erholung als ein reales Gut verstanden wird, das erarbeitet werden muss bzw. ausschließlich durch eine außerordentliche ideelle, materielle oder physische Disposition gerechtfertigt werden kann und Müßiggang die unrechtmäßige Aneignung desselben darstellt. Müßiggang findet sich folglich innerhalb der Kategorien und Sprache von Eigentum wieder. In einer Gesellschaftstheorie, in der zu arbeiten einen menschlichen Grundvollzug darstellt, bleibt Müßiggang im wortwörtlichen Sinne stets ‚asozial‘ und beinhaltet den Vorwurf des Zeitdiebstahls: Wer faul ist, raubt, denn andere müssen kompensieren. Betrachtet man die Sachlage aus der Perspektive des Müßigen, erfährt sich dieser unfreiwillig der Pflicht zur Arbeit ausgeliefert. Er fragt sich dann wohl, ob das soziale Axiom der Arbeitspflicht zur Debatte gestellt werden könne? Müßiggang entpuppt sich gar schnell als latenter Freiheitsdiskurs. Bevor letzterer in seiner unzähmbaren Diversität und Komplexität alle Gedanken sprengt, mahnt uns die Pragmatik und erinnert uns daran, dass bedingungslose Freiheit in einer sozialen Welt nicht existieren kann, folglich auch kein bedingungsloses Recht auf Erholung.
Als sozial Verstrickte bleiben wir, noch bevor wir den ersten Atemzug tun, der Welt um uns herum etwas schuldig – die Erbpflicht, unseren Beitrag in dieser Welt zu leisten. Im Buch Genesis werden beispielsweise Arbeit als Strafe für die Erbsünde und das Paradies als Ort der beständigen Erholung präsentiert. Was der biblische Autor aus dem Orient dabei nicht wissen kann: Arbeit und Erholung sind in der abendländischen Kultur weniger Fragen des Wohlbefindens, sondern mehr Fragen sozialer Verantwortung. Da hat man es als Kunst- und Kulturschaffender nicht leicht, denn kreativer Geist scheint gar oft geradezu mit dem Müßiggang vermählt. Beispielsweise ist der vorliegende Text nicht Produkt, nicht Erzeugnis, er ist Resonanz des ihm mehrere Tage vorauseilenden Nichtstuns. Wer sich den Freiraum inspirierenden Müßiggangs dennoch leisten möchte, riskiert somit die Schwelle des Asozialen zu überschreiten. Wobei hier wiederum die alte Weisheit gilt, dass die Mitte besser aus einer gewissen Distanz getroffen werden kann – m.a.W. dass der soziale Wert von Arbeit erst im asozialen Müßiggang erschlossen werden kann.