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Ex-Skirennläuferin Nicola Werdenigg erzählt heute im Standard von Übergriffen, Gewalt und Machtmissbrauch innerhalb des Skizirkus‘. Die Worte der österreichischen Abfahrtsmeisterin von 1975 lassen einen betroffen und wütend zurück. Die Szenen die sie schildert gleichen einem Horrorfilm oder zumindest einem sehr, sehr spannenden, aufwühlenden und verstörenden Roman. Von pädophilen Heimleitern, sexuellen Übergriffen unter Mannschaftskollegen und Vergewaltigung ist die Rede. Egal welches grausame Erlebnis beschrieben wird, im darauffolgen Satz spricht Nicola Werdenigg von Scham, Schuldgefühlen oder sagt „es war grausam, aber so war das damals eben.“
Solch schwerwiegende Erkenntnisse lösen (im Leser) gerne Abwehrreaktion aus. Eine sehr nahe liegende ist es, sich einzureden, dass das damals vielleicht so war, es heute aber bestimmt anders sei. Was würde das für den gesamten Sport bedeuten, wenn hinter klingenden und umjubelten Namen wie Marcel Hirscher oder Anna Veith solch traurige Schicksale und Erlebnisse wie jene von Nicola Werdnigg lauern würden? Doch man muss unter dem Text nur ein paar Zentimeter weiterlesen und die eigene (Schutz-)Theorie rückt in Richtung, möglich aber unwahrscheinlich.
Ein Unser namens Rumcajs (selbst Jahrgang 72 und bis 1987 Teil des Skizurkus‘) erzählt in seinem Kommentar von „bescheuerten Initiationsriten, wie das Versenken der Zahnpastatube im Anus des Erstklässlers“ von „Begrapschen bis zum unfreiwilligen Sex.“ Er schließt seinen Kommentar mit dem hoffnungsvollen Satz „keine Ahnung, was sich seit 1987 geändert hat, aber meinen Kindern rate ich Spitzensport ab.“ Wer seinen Kindern vom Spitzensport abrät, kann sie allerdings auch gleich aus der Jungschar, aus der Musikkapelle, aus dem Roten Kreuz, dem Jungbauernverein oder aus der neuen Arbeit rausnehmen.
Strukturelle Gewalt, Machtmissbrauch und Diskriminierung lauern nämlich nicht nur im Skizirkus und in der katholischen Kirche, sondern an allen Ecken und Enden unserer Gesellschaft, wo Opfer mit Scham und Schuldgefühlen zu kämpfen haben und deshalb schweigen. Nun kann man zu #metoo Bekundungen stehen wie man will. Eines steht allerdings fest. Jedes Opfer, das den Mut aufbringt sich äußern und seine Erlebnisse zu schildern hat unsere Aufmerksamkeit, unser Mitgefühl und unseren aufrichtigsten Respekt verdient. Opfer haben keinen Grund sich zu schämen oder irgendetwas als („so war das damals eben“) gegeben hinzunehmen. Ich für meinen Teil bin jedenfalls sehr darauf gespannt, ob und wie sich der österreichische Skizirkus (als Ganzes) zu den Berichten von Nicola Werdenigg äußern wird. Es wäre ein guter Anlass, um struktureller Gewalt im eigenen System den Raum zu nehmen.