Auch geistig war er kaum jemandem überlegen, genau so wenig unterlegen – gleich hohl wie die Masse. Irgendwie war ihm das auch immer egal gewesen, bis zu diesem einen Tag. Der Tag hatte schon äußerst ungewöhnlich begonnen. Die Sonne strahlte, es war furchtbar heiß, zumindest für diese Jahreszeit. Paul hatte seinen roten Mantel angezogen. Ohne den kannte ihn übrigens niemand. Egal wann man Paul antraf, er hatte immer seinen roten Mantel an und die ebenso leuchtend rote Mütze auf dem Kopf. Paul war sich sicher, dass ihn ohne diese zwei Dinger auf der Straße niemand erkennen würde. Sie machten ihn mehr aus, als alles andere. Seine unaufdringliche Höflichkeit, sein ausgeprägter Sinn für die Bedürfnisse anderer Menschen, sein Harmoniebewusstsein und sein Hang zur Gemütlichkeit waren weniger er, als dieser rote Mantel und die rote Mütze – sie machten ihn zu dem, der er war – glücklich, wenn andere glücklich waren.
Der Tag begann gut, so gut wie der erste Arbeitstag der neuen Saison eben beginnen konnte. Paul war ordentlich nervös gewesen – das war er immer wenn es endlich wieder los ging. Wie jedes Jahr das gleiche Spiel – er musste einen Tick schneller sein als die anderen, eine Spur freundlicher und vor allem begehrenswerter – ja sein Körper war sein Kapital, das wusste er. Den ganzen Morgen hatte er daran gearbeitet. Der Bart war perfekt gestutzt, die Haare gekämmt, die Brille saß – er liebte seine Brille. Sie ließ ihn ein wenig intellektuell wirken und verlieh ihm das Aussehen eines liebevollen Großvaters, der seinen Enkeln vor dem Kamin Geschichten vorliest, während diese auf seinen Knien sitzen und Lebkuchen um Lebkuchen verdrücken – ach wie hatte er sich immer Enkelkinder gewünscht. Leider war ihm dieser Segen nie vergönnt gewesen. Bei seinem Job war es auch einfach nicht möglich eine Familie zu gründen. Immer dieser Stress, dauernd in der Arbeit, kaum freie Tage, geschweige denn Urlaub. Seine Familie waren seine Arbeitskollegen. Immerhin hockten sie fast einen Monat mehr oder weniger aufeinander. Immer vor Weihnachten, in der Adventszeit, da hatten sie am meisten zu tun.
Auch wenn diese Zeit immer recht stressig war und Sie kaum einen Tag Ruhe hatten, sie liebten es trotzdem – vor allem wenn sie das Lächeln der Kinder sahen. Dafür lohnte es sich einfach jeden Tag früh aufzustehen, sich herauszuputzen, freundlich zu lächeln und zu warten. Ja eigentlich taten sie nicht viel mehr, als zu warten. Warten bis eine Mutter, oder manchmal auch ein Vater, sehr oft waren es auch Großeltern, Onkel, Tanten oder größere Geschwister, bis einer dem Betteln und Flehen und vor allem den leuchtenden Kinderaugen nachgab und zugriff. Dann landeten Paul und seine Kollegen erst im Einkaufskorb, dann auf dem Förderband und dann auf einem Ehrenplatz. Entweder in der Küche neben all den anderen Süßigkeiten, oder in einem Kinderzimmer, gut versteckt vor den gierigen Fingern der diebischen Geschwister. Ja es gab eindeutig schlimmeres, als ein Schokoladen-Weihnachtsmann zu sein.
Artikelbild (c) Anne Worner, Six Eyes - Revisited, flickr.com
Diese Geschichte erschien erstmals im Advent 2014. Damals hieß es: "Ab sofort erscheint an jedem Advent-Sonntag Abend ein weiteres Kapitel der Weihnachtsgeschichte "Wie Paul Weihnachten verlor". Gemeinsam Kerzen anzünden. Tee trinken. Kekse essen. Geschichte lesen. Wir wünschen euch einen schönen und besinnlichen Advent."
Hier geht es direkt zu Teil 2 der Geschichte.