Eine Konstante gibt es im Leben jedes Musikinteressierten, der sich nicht nur für Musik sondern auch für die Rezeption von Musik und somit auch für Kritiken interessiert. Menschen scheint es brennend zu interessieren, was dieser oder jener Kritiker für die beste Musik in diesem oder jenem Jahr gehalten hat. Warum eigentlich? Lässt sich Musik wirklich so leicht auf einen Nenner bringen? Ich halte Jahresbestenlisten für einen absoluten Blödsinn. Weil eines klar ist: Man hatte nur die Zeit und das Verständnis sich mit einem ganz kleinen Teil der Musikwelt zu beschäftigen. Und Geschmack verläuft auch nicht chronologisch und hält sich nicht an Jahre. Zumindest bei mir nicht.
Das Problem ist jedenfalls evident. Die Welt ist voller Musik. Guter und schlechter, mittelmäßiger und avancierter. Am Ende des Jahres wird die Musik dann in Listen und Aufstellungen gepresst um eine Orientierung für die Hörerinnen und Hörer bereitzustellen. Schließlich sind Kritiker ja Menschen, die sich auskennen und quasi haupt- oder zumindest nebenberuflich Musik hören, einschätzen und bewerten. Manchmal tue ich das auch. Stets aber mit einem Unbehagen, ganz einfach weil ich weiß, dass ich mir nicht die Zeit genommen habe, die notwendig gewesen wäre um die jeweilige Aufnahme wirklich analysieren, bewerten und beschreiben zu können.
Mir kommt es oft so vor, es würde ich damit die „Hörbeziehung“ zu einer Aufnahme kappen, frühzeitig beenden. Was bewertet ist, ist festgelegt. Meine Meinung steht fest, sollte Substanz haben. Diese einmal ausgesprochene und geschriebene Meinung beeinflusst meine Hörwahrnehmung. Jedes Mal, wenn ich mich wieder dieser besprochenen Aufnahme annähere, dann habe ich das Gefühl, der jeweiligen Aufnahme nicht gerecht geworden zu sein. Ich suche geradezu fieberhaft nach Aspekten in der Musik, die meine Meinung stützen.
Ich weiß aber: Mein Verhältnis zu jeder Platte ändert sich. Es ist ein immerwährender Dialog, der eigentlich niemals zum Stillstand kommt. Zu guten Platte müsste man eigentlich schweigen. Denn diese wachsen, sind in ständiger Bewegung, niemals mit sich selbst identisch. Schlechte Platten, die einfach zu durchschauen sind, lasse ich hingegen gar nicht an mich heran. Sie taugen nicht zu diesem beschriebenen Dialog, zu diesem gemeinsamen Leben, das immer auch Höhen und Tiefen hat.
Wie lässt sich über die beste Musik von 2014 schreiben?
Noch ein Problem habe ich damit, wenn ich über die beste Musik von 2014 schreiben soll: Was passiert mit Musik, die gar nicht aus dem Jahre 2014 ist, sondern von Komponisten stammt, die schon hunderte von Jahren auf dem Buckel haben und längst gestorben sind? Richtig: Sie werden vermutlich in einer solchen Auflistung nicht präsent sein. Relevanz erlangen sie erst, wenn sie in dem jeweiligen Jahr neu interpretiert werden.
Damit ist dann einer Problematik Tür und Tor geöffnet, quasi die sprichwörtliche Büchse der Pandora geöffnet: Bewerte ich ausschließlich die Interpretation oder auch die Genialität der jeweiligen Komposition, die interpretiert wird? Wenn ich nur das aktuelle Jahr und die Interpretation mitdenke, dass missverstehe ich grundlegend, dass auch der Zeithorizont der ursprünglichen Komposition im Heute mitschwingt. Ich kann diese Werke und Kompositionen unmöglich auf ein Jahr datieren, es wäre eine unzulässige und stark vereinfachende Konstruktion. Ich würde den jeweiligen Interpreten alles zusprechen und den Zeithorizont der Quellen weitestgehend ausblenden.
Außerdem: Wer glaubt schon, im betreffenden Jahr wirklich ALLES gehört zu haben? Möglich sind letzen Endes nur Listen, die sich mit Nischen beschäftigen. Listen, die ein Genre, spielerische Strategien oder musikalische Verflechtungen mit einer gewissen Szene als Auswahlkriterien etablieren. Auch bestimmte Platten-Labels, denen Qualität zugeschrieben wird, eignen sich oft als Selektionskriterien. Sprich: Der Kritiker muss sich seinen Weg durch das Dickicht bahnen ist dabei froh, wenn ihm eine Anleitung zur Komplexitätsreduktion an die Hand gegeben wird.
Alles wird einfacher: Mit gewissen Veröffentlichungen muss ich mich gar nicht beschäftigen, weil sie a priori schlecht sind, weil sie auf dem falschen Label erscheinen. Und andere Veröffentlichungen sind zumindest potentiell interessant, weil der richtige Produzent mit den richtigen Verbindungen auf dem richtigen Label im Spiel ist. Objektiv geht jedenfalls anders.
Subjektiv geht auch anders, ganz einfach schon mal deshalb, weil sich das bewertende, analysierende und musikhörende Subjektiv gar nicht in einem ästhetischen Raum bewegen kann, der nicht schon vorstrukturiert ist. Ich sitze also immer schon gewissen Vorannahmen und Vorurteilen auf, die meine Bewegungs- und Handlungsfähigkeit in Sachen Musikrezeption überhaupt erst ermöglichen. Ein Raum, in dem Musik, Komponisten, Musiker und Aufnahmen vollständig frei flottieren würden wäre ein überkomplexer Raum, vor dem jeder Kritiker, wenn er ehrlich mit sich selbst ist, kapitulieren müsste.
Wie kann ich euch aber hier dennoch eine Liste meiner liebsten Veröffentlichungen vorstellen? Aus meiner Sicht müssen all die hier geschilderten Probleme mitgedacht werden. Ich muss jetzt einen Schnitt machen und meine „Beziehung“ zu dieser oder jenen Platte beenden. Ich schreibe aber nichts über die jeweilige Platte, sondern stelle sie nur einfach so in den Raum.
Mit der Aussage, dass ich diese Platte besonders genossen haben und glaube, dass sich der musikalische Dialog auch in den nächsten Monaten gut entwickeln und sogar verstärken wird. Ich muss mir außerdem bewusst sein, dass ich die Interpreten über alle Maßen hervorhebe. Ganz einfach, weil mir nur das Jetzt der Aufnahme zugänglich ist und mir historische Aufnahme der jeweiligen Komposition nicht immer vorliegen.
Ich muss also bewerten, was der Interpret aus diesem Werk im Jahre 2014 macht, ohne stets alle vorherhegenden Interpretationen von anderen Interpreten zu kennen. Meine Bewertung ist eine Bewertung im Hier und Jetzt, die gewisse Aspekte der Geschichtlichkeit der Komposition hintanstellen muss.
Ich muss mich auch selbst mitdenken. Als von gewissen Kontexten und Vorannahmen abhängig. Ich kann aber zugleich auch versuchen, auch wenn es ein Kampf gegen Windmühlen ist, mich von zu engen Vorannahmen zu lösen. Ich kann mich versuchsweise nicht von für mich großartiger Platte zu großartige Platte entlang bewegen, sondern eklektischer vorgehen.
Ich darf mich nicht nur in einem Genre aufhalten, auch wenn es Präferenzen zu diesem geben sollte. Ich muss den Mut haben mich auch in musikalische Gebiete zu bewegen, die mir nicht ad hoc nahe sind. Denn dort wartet das große musikalische Abenteuer und vielleicht auch die nächste große musikalische Liebe.
In diesem Sinne: Wer es bis hierher geschafft hat, der soll zumindest eine kleine Liste zur Belohnung bekommen. Und eben ein paar Platten, die mich, unter all den Vorbehalten die ich bisher geäußert habe, im Musikjahr 2014 besonders angesprochen und begleitet haben. Eine Reihenfolge dieser Aufnahmen erübrigt sich selbstverständlich. Sie sind aus meiner Sicht alle für sich genommen absolut außergewöhnlich.
Nels Cline & Julian Lage: Room
András Schiff: Diabelli-Variationen (Beethoven)
Steve Lehman Octet: Mise en Abime
Anja Lechner & Francois Couturier: Moderato cantabile (Komitas, Gurdijeff, Mompou)
Scott Walker & Sunn o))): Soused
Carolina Eyck & Christopher Tarnow: Improvisations for Theremin and Piano
Flying Lotus: You´re Dead!
Andreas Matthias Pichler: The Waltz Of Our Hundred Kids
St. Vincent: St. Vincent
…und natürlich noch einige mehr. Die hier ausgewählten Platten sind aber Aufnahmen, die mich besonders begeistert haben. Schlicht und einfach deshalb, weil die Platten selbst schon das spiegeln, was ich auch selbst versuche: Sie sind nicht an ein Genre gebunden, versuchen Grenzen zu überschreiten, die Perspektive zu wechseln und Bekanntes neu zu interpretieren.
Das Musikjahr 2014: Die (Un)möglichkeit eines Rückblicks
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Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.