Zu Hanno Rauterberg, „Wie frei ist die Kunst? Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus.“
In den letzten Jahren begab sich in der Kunst Seltsames, eine Umkehrung des Gewohnten, wie es schien. Zuvor, seit ein oder zwei Jahrhunderten, stand sie unter dem Zeichen der Freiheit, sah ihre Aufgabe im Überschreiten aller denkbaren Grenzen, die von den irdischen Mächten gezogen waren, im Angriff auf Herrscher aller Art, zuvorderst auf das Geschmacksurteil der braven Bürger, die im Endeffekt und gewissermaßen zum Ausgleich dafür zu sorgen hatten, dass die Kasse stimmte. Zuvor mussten sie aber ordentlich vor den Kopf gestoßen werden, épater le bourgeois, wie das auf Französisch so schön und gern zitiert heißt. Kurz, die Kunstgeschichte war immer auch eine Geschichte des Ringens mit der Zensur. Seit einiger Zeit nun häufen sich die Vorfälle, bei denen es Künstler selbst sind oder ein (zumindest theoretisch) kunstaffines Publikum, die zum Verbot oder gar zur Zerstörung eines Kunstwerks aufrufen oder zur gesellschaftlichen Ächtung des Künstlers, weil er sich danebenbenommen hat oder dies jedenfalls jemand von ihm behauptet. Dabei gehörte Mißbetragen aller Art bis vorgestern noch in den Grenzüberschreitungs-Kanon, dem der moderne Künstler verpflichtet war. In einem sehr lesenswerten Bändchen beschreibt der „Zeit“-Redakteur Hanno Rauterberg den hier skizzierten Komplex in der ihm eigenen besonnenen und kenntnisreichen Art, nicht ohne der Chose auch die ihr innewohnenden skurrilen Seiten abzugewinnen.
So wird etwa dem Fotorealisten Chuck Close eine bedeutende Retrospektive gestrichen (wegen „unpassender“ Bemerkungen zu seinen Modellen über deren Aussehen), naturgemäß ohne Gerichtsurteil: der digitale Mob, der sich zu solchen Gelegenheiten formiert, funktioniert nach dem guten alten Wahrspruch „Mir wern kan Richter brauchen“. Da waren die viktorianischen Spießer korrekter; sie machten Oscar Wilde erst nach einem diesbezüglichen Gerichtsurteil zur Schnecke. Es ist ein durchaus gemischtes Bild, das hier entsteht. So führte etwa die Übermalung eines Gedichts von dem bis dahin eher mäßig berühmten Lyriker Ernst Gomringer auf der Wand einer berliner Hochschule plötzlich zu dessen rapider, wenn auch sehr vorübergehender Berühmtwerdung.
Auch recht altertümlich wirkende Kriterien gelangen zu neuer Geltung wie die irgendwie, wie man dachte, doch seit längerem verpönte Rassen- oder Stammeszugehörigkeit. Unter dem Stichwort „cultural appropriation“ haben etwa farbige Künstler begonnen, ihren weißen Kollegen das Recht abzusprechen, sich „schwarzer“ Themen anzunehmen. Der Universalitätsanspruch der Kunst erlischt unversehens. In letzter Konsequenz dürfte der Südburgenländer sich ausschließlich nur noch mit dem Südburgenland und den dort bei ihm und seinesgleichen vorkommenden Seelenzuständen befassen. Als Grundregel kann gelten, dass der (vorwiegend alte) weiße Mann endlich den Mund halten und sich tunlichst von der Bühne entfernen sollte. Wenn man selber ein solcher, wenn nicht alter, so doch älterer weißer Mann ist, scheint einem dieses lustige Treiben gelegentlich eher bizarr, wiewohl man es ja schon seit der Zeit kennt, als man noch ein junger weißer Mann war und sich nicht nur den damals neuen Sprechkodex in bezug auf die werktätigen Massen, die Frauen sowie Farbige und Minderheiten jeglicher Art angewöhnen mußte, sondern einem auch zunehmend das Recht abgesprochen wurde, für irgendwen außer sich selber zu sprechen. Und selber gehörte man dummerweise der einzigen Gruppe weit und breit an, die keine verfolgte Minderheit war, sondern das Gegenteil. Es scheint allerdings zu den genetischen (rassischen?) Eigenheiten des weißen Mannes zu gehören, daß er selbst in aussichtsloser Lage einfach nicht den Mund halten kann.
Diese Problematik hat sich nun unter dem Begriff „cultural appropiation“ zugespitzt. So als der (weiße) US-Amerikaner Sam Durant 2012 für die „Documenta“ unter dem Titel „Scaffold“ eine Holzkonstruktion baute, die an Hinrichtungen, unter anderem eine von Dakota-Indianern im 19. Jahrhundert erinnern sollte. Als er dieselbe in Minneapolis nochmals aufstellen wollte, bekamen die Nachfahren jener Indianer, von denen da die Rede war, Wind von der Sache – und reagierten bilderbuch-, d.h. indianermäßig. Abgesehen von Plakaten mit der Inschrift „Unser Völkermord ist nicht Eure Kunst“ wurden 200 Dollar für den Skalp des Künstlers ausgelobt; nicht gerade eine Menge Geld. Das mit dem Skalp fehlt merkwürdigerweise im diesbezüglichen (englischen) Wikipedia-Eintrag. Offenbar wollten die Sittenwächter dem Wikipedia-Leser nicht nahelegen, daß Edle Wilde sich tatsächlich als solche betragen hätten, nach dem althergebrachten Schema „Glasperlen gegen Goldbarren“ – zwar edel, aber auch ein bißchen doof.
Abgesehen davon scheint es mir vollkommen einsichtig, daß einem sozusagen persönlich Betroffenen, in diesem Fall eben einem Dakota, der Kragen platzt, wenn der handelsübliche postmoderne Weltkünstler, der mit moralischer Allzuständigkeit sich die Anliegen sämtlicher denkbarer unterdrückter Minderheiten aneignet und damit abcasht oder es jedenfalls versucht, nun derjenigen zuwendet, der man zufällig selber angehört. Für einen empfindsamen Zeitgenossen hat das doch etwas schwer Aushaltbares bis rundheraus Obszönes. Das Moralische, das seit eh und je ein integraler Bestandteil künstlerischer Diskurse war, wie versteckt auch immer, wird hier und heute zum Alleinstellungsmerkmal: jede Documenta als gigantische NGO-Veranstaltung für das Gute in dieser Welt. So oder so, egal wie das jeweilige Event oder auch die ganze Sache mit der Avantgarde-Kunst nun ausgeht, es hat sich jedenfalls etwas im Fundament bewegt, dessen Ausmaße und Auswirkungen noch nicht abzusehen sind.