Das-Pensionisten-Paradoxon

Über Milch, die Zeit und Haushaltsprobleme.

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Letztens saß ich mit einem Kollegen beim Kaffee, als er mir zwei Weisheiten offenbarte. Erstens sei es absurd, dass wir beide gerade Milch in unsere Verlängerten schütten. Der Mensch sei das einzige Wesen auf dieser Erde, das Muttermilch einer anderen Spezies zu sich nehmen würde. Und das im Erwachsenenalter. Zweitens müsse es – laut ihm – schon längst eine App geben, die die Arbeitskraft von Pensionisten für alle zugänglich macht. Seine Theorie klang überzeugend. Alte Leute haben viel Zeit, Erfahrung und Langeweile. Uns jungen Menschen fehlt die Zeit, um uns zu langweilen – was auf Dauer ungesund sei. Statt zuhause rumzusitzen, aus Fenstern zu starren, im Park Schach zu spielen oder in der Mittagspause die Supermarktkassa zu blockieren, könnte sich die ältere Generation ruhig einbringen und einen Beitrag zum allgemeinen Wohlstand leisten. Als mein Kollege vom „allgemeinen Wohlstand“ sprach, meinte er natürlich seinen eigenen. Genauer gesagt den Luxus ausreichend Freizeit zu besitzen. Sofern man Zeit überhaupt besitzen kann. Und mit „Beitrag leisten“ waren Gartenarbeit und Haushaltsaufgaben gemeint.

Ich muss gestehen, dass mir seine Idee auf Anhieb gut gefiel. Die letzten Wochen haben mir nachdrücklich vor Augen geführt, dass Karriere und Haushalt einfach nicht zusammenpassen. Immer öfter erwische ich mich dabei, wie ich verzweifelt „Ich will sofort eine Haushaltshilfe oder zumindest einen Saugroboter“ durch die Wohnung brülle und meiner Frau damit ganz schön auf die Nerven gehe. Zuhause herrscht Fifty-Fifty mit strenger Aufgabenverteilung. Ich bin für Pflanzen, Küche und Böden zuständig. Sie für die Nassbereiche, das Staubwischen und die Qualitätskontrolle. Wäsche, Kleiderschrank und Schlafzimmer werden geteilt. Unter der Woche kommen wir beide von der Arbeit meist so spät nach Hause, dass es draußen bereits dunkel ist. Sommer wie Winter. Da bleibt wenig Zeit. Der Staub türmt sich, bis endlich Wochenende ist und wir beide ihn mühselig von den Fensterbänken kratzen. Früher habe ich mich auf Samstage gefreut, weil das der Ausgehtag war. Heute ist es der Putztag.

Überhaupt kommt mir vor, dass viele Rituale in den letzten Jahren dramatisch an Beliebtheit verloren haben. Die große Pause zum Beispiel. Dabei war die mal ein echtes Tageshighlight. Nachdem man sich durch die ersten Schulstunden gekämpft hatte, gab es gegen zehn Uhr die verdiente Belohnung. Freunde treffen und Quatschen am Schulhof. Heute bin ich froh, wenn mich vormittags zwischen zwei Terminen niemand anspricht und ich den Tageszeitplan halbwegs einhalten kann. Oder „auf den Bus warten“ nach Schulschluss. Wenn man mit Kollegen so lange rumgetrödelt, bis der Schulbus an einem vorbeifährt, nur um möglichst lange nicht nach Hause zu müssen. Heute rennt man nach getaner Arbeit, mit gesenktem Kopf, in Richtung Ausgang und wählt den schnellsten Weg zur heimischen Couch. Zeiten ändern sich.

Nur. Wie entspannt wäre das Leben, würden daheim statt haufenweise Dreckwäsche und einem vollen Geschirrspüler, frisch gebügelte Hemden und warmes Abendessen warten? Und statt einen Partner in die Rolle des Haushälters zu zwingen, könnten glückliche Pensionisten all die mühseligen Aufgaben erledigen. Endlich mehr Zeit für sich selbst und die Beziehung. Herrlich. Höchste Zeit, um mit meinem Kollegen diese Senioren-App umzusetzen. Aber wann? Da müssten sich schon zwei Pensionisten finden, die diese Aufgabe für uns übernehmen. Ganz schön paradox. Darauf erstmal ein frisches Glas Milch. Prost!

Glaubt an das Gute im Menschen. Eigentlich Betriebswirt. Hat das ALPENFEUILLETON ursprünglich ins Leben gerufen und alle vier Neustarts selbst miterlebt. Auch in Phase vier aktiv mit dabei und fleißig am Schreiben.

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