(c) Walter Klier

Bergwandern im Sommer 2020

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Aber jetzt wirklich einmal etwas ganz anderes, zwischendurch, reden wir von was Nettem.

Wir haben August, endlich hat sich der Sommer auf sein Sommersein besonnen, es wird richtig warm, und morgen ist nichts zu erledigen, zu kaufen, zu holen, morgen gehen wir wandern.

Der Papa, in seiner Eigenschaft als emeritierter Wanderführer-Schreiber, soll wie üblich eine Tour aussuchen. Wenn dann an der Tour etwas auszusetzen sein sollte, weiß man wenigstens, wer schuld daran ist. Zumal nach dem abrupten Ende des vergangenen Winters das Freizeit-Ticket noch fest ausgenützt werden muß, wird zunächst überprüft, welche Seilbahn als Zubringer in Frage kommt. Denn bei der zu erwartenden Hitze sollte sich die Wanderung in etwas größerer Höhe abspielen. Schließlich fällt die Wahl auf Bergeralm-Nößlachjoch-Eggerberg-Leitnerberg-Lichtsee und zurück. Da war ich das letztemal vor ungefähr 30 Jahren, und damals bin ich (glaublich) von der Bergeralm wegmarschiert. Was ist jetzt mit dieser neuen Gondelbahn, und vor allem: wie weit kommt man mit ihr hinauf? Gibt es die zweite Sektion überhaupt schon? Heutzutage braucht man ja keine Wanderführer mehr, weil sowieso alles im Internet steht. Wenn man aber glaubt, wenigstens die gröbste Basisplanung für diesen nicht gerade exotischen Wandervorschlag sei mit Internethilfe möglich, der irrt. Die Planung besteht also in dem waghalsigen Entschluß, sich überraschen zu lassen.

Nach nur mäßigem morgendlichem Aufbruchs-Tumult sind wir um halb elf in Steinach, bewundern kurz die heute wegen Baustellenlärms besonders lärmend-überdimensional-bedrohliche Autobahnbrücke, die sich über der Talstation weit ins Hohe türmt, und überhaupt die exquisite Häßlichkeit dieses Ensembles, dessen stiller Höhepunkt der Beton- und Asphaltrahmen für die Kapelle darstellt, die ihrerseits lang vor all dem schon da war und weiter da ist und sein wird und mittlerweile bloß einen etwas vorwurfsvollen oder gekränkten Ausdruck in ihrer Fassade hat … dabei ist die Autobahnbrücke für sich gar nicht häßlich, bloß zusammen mit all dem, was sich an Gebautem zu ihren Füßen tummelt, beschleicht einen wieder einmal die merkwürdige Frage, warum denn in aller Welt heutzutage alles so furchtbar schiech gemacht wird …

Oben Sonne, Licht, weite Almböden, immer noch Blütenpracht am Wegesrand, und der unfaßbar weite, schöne Naturraum, der uns nun umgibt. Wir gehen und gehen, und alles wird gut und schön. Man darf bemerken, daß es wenigstens hier der Sommersaison nicht allzu schlecht geht, Ausländer und Einheimische in bunter Mischung auf dem Weg hinüber zum Lichtsee, um den See herum gar eine Art kleiner Badebetrieb. Kinder quietschen, vor lauter kalt ist das Wasser, und die Papas waten tapfer voraus ins Tiefe. Furchtbar lang bleibt niemand drinnen.

Auf dem Rückweg begegnen wir einer überraschenden Auswahl von modernistischen Zeitgenossen, die einen schon nicht anschauen, dann doch von uns gegrüßt kaum, wenn überhaupt, zurückgrüßen, das widerwärtig Autistische eines Großstadtgehsteigs als Aura mit herauf ins Gebirge genommen haben. Irgend so jemand begegnet einem ja immer wieder, aber heute, wo es eine zeitlang nur solche sind, beginnt man zu sinnieren: vielleicht haben jetzt, mit dieser Seuche, die Leute einen gemeinsamen Dachschaden erlitten und es ist nun tatsächlich nichts mehr wie vorher? Was weiß man denn?

Die nettesten, denen wir begegnen, sind ein Trupp von Mutterkühen (vor denen jetzt allerorts Schilder warnen) und ein paar Stuten mit Fohlen. Insgesamt ist unser Fazit nach einem Wandersommer mit lauter Almen und den zahllosen Kühen, daß uns alle diese Kühe ganz gleich vorkommen wie seit eh und je, nämlich sehr beruhigt und zugleich durchaus ehrfurchtgebietend in ihrer elementaren Kraft und Größe. Immer wohnt ihnen ein Quentchen Unberechenbarkeit inne, und sei es nur, daß ihnen eine Mücke ins Aug fliegt und sie den Kopf kurz herumreißen.

Bin ich also angesichts der touristischen Kuhpanik der letzten Jahre womöglich gezwungen, feststellen, daß es sich auch hierbei um ein von den Medien mit Genuß hochgeschaukeltes Theater und sonst nichts handelt? Führt uns das womöglich zu der Überlegung, daß die vielgerühmte vierte Macht im Staate inzwischen in Summe einen durchaus verderblichen Einfluß auf die Gesellschaft ausübt, ganz gleich auf welchem „Niveau“ sie sich angeblich bewegt. Daß sie nämlich nichts als die öde, traurige Arbeit des Bedienens aller dummem Vorurteile und des Hochkitzelns aller miesen Wallungen im Menschen verrichtet? Aber wahrscheinlich stand die Sache nie besser, und bei „früher“ denken wir an Emile Zola und die Affäre Dreyfus und stellen uns vor, wie toll das gewesen ist, daß diese Leute damals gegen die zunächst übermächtig scheinende öffentliche Meinung durchgehalten haben.

Walter Klier, geb. 1955 in Innsbruck, lebt in Innsbruck und Rum. Schriftsteller und Maler.
Belletristik, Essays, Literaturkritik, Übersetzungen, Sachbücher. Mitherausgeber der Zeitschrift "Gegenwart" (1989—1997, mit Stefanie Holzer). Kommentare für die Tiroler Tageszeitung 2002–2019.
Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u.a.: Grüne Zeiten. Roman (1998/Taschenbuch 2014), Leutnant Pepi zieht in den Krieg. Das Tagebuch des Josef Prochaska. Roman, 2008. Taschenbuch 2014). Der längste Sommer. Eine Erinnerung. 2013.
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