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Steigerungsstufen von Rot

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Heißt es rot, röter an rötesten? Oder roter am rotesten? Die Sprache gibt die Steigerungsstufen nicht her, obwohl wir sie jetzt benötigten. Nein, ich spreche nicht von der Wien-Wahl. Ich nehme die Debatte über eine mögliche Steigerung von Rot auf, die Ministerin Edtstadler mit ungewohnter Sprachsensibilität in Brüssel aufgeworfen hat. Denn die Europäische Union will doch tatsächlich eine ganz primitive Corona-Warnampel mit nur drei Farben Grün-Orange-Rot einführen! Dabei weiß jeder gelernte Österreicher, dass drei Farben nicht ausreichen, wenn man das Verhalten von Menschen in Gefahrensituationen steuern will. Fährt etwa der Autofahrer vor der Kreuzung bremsbereit, wenn die Ampel Gelb zeigt?  Keineswegs. „Für mich geht sich´s schon noch aus“, denkt er und drückt aufs Gas. Aus dieser Erfahrung heraus hat unsere Regierung die vier österreichischen Lawinenwarnstufen fürs Pandemiewarnsystem übernommen: Grün heißt dort „geringe Gefahr“, bei Gelb ist die Gefahr „mäßig“, bei Orange „erheblich“ (eine diplomatische Wortwahl, die jeder nach eigenem Gutdünken interpretieren kann) und erst bei Rot „groß“ (Aber auch diese Bezeichnung erzeugt noch nicht wirklich Panik) . Da ist also nicht zu befürchten, dass durch Farbe oder Wortwahl Menschen (Touristen) gleich abgeschreckt werden. Und obwohl die schlimmsten Unglücke jedes Jahr im orangen Bereich passieren, ist „erheblich“ auch noch lange nicht „groß“, und deshalb muss man bei dieser Warnfarbe nichts sperren, keinen Lift, keine Straße. Der Tourismus kann beruhigt weiter florieren. Bei Orange ist bloß höhere Eigenverantwortung gefragt, egal ob bei Lawinen oder Corona, auch wenn die Eigenverantwortung, statistisch gesehen, halt leider nicht so gut funktioniert. Bei Rot allerdings muss man dann wirklich irgendwas zusperren, aber was, das bleibt offen. Und Rot ist ja fast nie und dann nur ein ganz klein bisschen.

In der Pandemie wollen wir jedenfalls einen zweiten Lockdown mit allen Mitteln verhindern. Also braucht man hier noch viel mehr Rotabstufungen, wobei dann erst bei der allerrötesten Stufe wirklich harte und wirksame Gegenmaßnahmen gesetzt werden, wie etwa wie derzeit in Frankreich, wo abendliche Ausgehverbote sogar Familiencluster eindämmen sollen. Frau Edtstadler hat schon Recht: Wenn ganz Europa rot eingefärbt ist, braucht es weitere Steigerungsstufen – weil erst dann wirklich etwas geschieht.

Hierzulande jedoch belassen wir es sowieso lieber möglichst lange bei der Warnung vor dem, was irgendwann kommen könnte, aber dann gottlob so gut wie nie eintrifft (weshalb man auch nicht vorherplanen muss) — vor der zweiten Infektionswelle (obwohl: ähnelt der täglich gezeigte Graph der Infektionszahlen nicht schon frappant zwei Wellen?) … vor weiteren einschränkenden Maßnahmen (obwohl: sollte man nicht eigentlich bei Orange schon die Bremsung einleiten?) … Und wenn die Ampel dann doch mal hier und da auf Rot schaltet, dann müssen wir zuerst so lange überlegen, was da zu machen wäre, dass wir eh schon wieder drüber hinaus sind, bevor etwas umgesetzt wurde.

Wir Österreicher schauen gerne zu Boden, sozusagen ins Hier und Jetzt, oder, alternativ, ganz weit über die bevorstehende Gefahr voraus in die Zukunft, die uns aber dann persönlich nichts mehr angeht. Gerne schauen wir auch weg. In Tschechien, England, Frankreich, Spanien ist es ja viel schlimmer als bei uns. Bei denen blinkt die Ampel viel röter als hierzulande. Tomatenrot, Bordeauxrot, Weinrot. Dort muss man jetzt wirklich was unternehmen. Wir dagegen stehen immer und ewig auf Orange*. Da ist noch keine Vollbremsung nötig. So bleiben wir immer einen Schritt von der Katastrophe und von notwendigen Gegenmaßnahmen entfernt. Bei Orange kann uns nichts geschehen. Da fahren wir weiter wie gewohnt. Haben das ja schon bei zwei Weltkriegen so gemacht. Und bei der Bankenkrise. Und bei der Flüchtlingskrise. Und bei der Klimakrise. Immer wurde lange vorgewarnt. Nur hat die orange Ampel in diesen Fällen dummerweise nicht rechtzeitig auf Rot geschaltet. Aber diesmal klappt´s bestimmt.

* Nachtrag vom 16.10.: Probe- und bezirksweise gibt´s  jetzt doch auch ein bisschen Rot. Und es wird jetzt gerade scharf überlegt, was dieses Rot nun eigentlich bedeutet, und ob es hell- oder dunkelrot ist?

Geboren 1954 in Lustenau. Studium der Anglistik und Germanistik in Innsbruck Innsbruck. Lebt in Sistrans. Inzwischen pensionierte Erwachsenenbildnerin. Tätig in der Flüchtlingsbetreuung. Mitglied bei der Grazer Autorinnen und Autorenversammlung Tirol, der IG Autorinnen Autoren Tirol und beim Vorarlberger AutorInnenverband. Bisher 13 Buchveröffentlichungen.

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