(c) Helmuth Schönauer

Anal-App

6 Minuten Lesedauer

Die Überschrift für dieses Gedanken-Feature sollte eigentlich „Analog-App“ lauten, sie musste aber verkürzt werden, weil beim Gendern von „Leserinnen und Lesern“ zu viele Buchstaben draufgegangen sind.

 Die Analog-App also ist die wichtigste, die unsereins besitzt, sie besteht nämlich aus dem eigenen Körper, in dem unsereins drin sitzt, liegt oder steht. In diese Analog-App ist alles verpackt, was nicht digital ist. Die wirklich wichtigen Informationen nämlich sprechen die Sinnesorgane an, und die sind nur analog, auch wenn sich manche schon Chips unter die Haut haben einschießen lassen.
Eine digitale App hingegen ist ein kostenpflichtiger Reiz, der wiederum in analoges Empfinden übergeführt werden muss.

Mit der Transformation von digitalen Apps in analoge geht viel Sinnlichkeit und Lebenskraft verloren. Man denke an das Haushaltsbuch von früher, worin man die Ausgaben des täglichen Bedarfs eingetragen hat, um am Monatsende zu wissen, wo die Kohle verloren gegangen ist. Jetzt hat Amazon das Haushaltsbuch übernommen und du kriegst regelmäßig eine Abbuchung, während sie die persönlichen Daten über dich in ihrem digitalen Haushaltsbuch aufschreiben. So wissen sie immer, ob du als Kunde müde bist und neu geködert werden musst. 

In aller Munde ist mittlerweile die Seuchen-App, die dir Auskunft gibt, ob jemand Verseuchter im Raum ist und dich ansteckt. Diese App kommt nicht gut an, weil sie eine schlechte Botschaft verkündet: Vorsicht, Gefahr ist im Raum!
Anders verhält es sich mit der Erektions-App, die anzeigt, ob gewisse Aufregung in der Nähe ist. Wenn du allerdings der einzige mit dieser App bist, ist sie ziemlich sinnlos.
Die Situation gleicht der Hirntod-App, die dir mitteilt, dass du hirntot und bereit für die Organentnahme bist, aber du kriegst es nicht mit. Neben der Sinnlosigkeit dieser Erfindungen leiden die Menschen auch unter dem Verlust von Vorstellungen für Größe, Zahlen, Moral oder Relevanz. Die Zahlen stehen in keinem Zusammenhang zu einer Absicht, sondern piepsen leer vor sich hin wie ein Zeiger ohne Ziffernblatt. 

Ist das 1-2-3-Ticket nun etwa günstig oder gerecht? Niemand kann es beurteilen, wenn er nicht weiß, wie viel er am Tag für Mobilität ausgibt. Und diese Zahlen hat niemand mehr, weil sie ja nicht mehr im Haushaltsbuch stehen, sondern bei Amazon liegen. 

Kann man das 1-2-3 Ticket in Wohnraum umrechnen? Also wie viel darf ich am Tag für Wohnen ausgeben, damit ich noch ein Mensch bin? Und was mache ich, wenn ich die ausgerechnete Zahl über- oder unterschreite? 

In Tirol kommen als Bevölkerungswachstum täglich zehn neue Menschen hinzu, die täglich etwa drei Wohnungen brauchen und dafür drei Autos mitbringen. Wo sollen die untergebracht werden? Wo kommt dieser Wohnraum her, der offensichtlich im Verborgenen da sein dürfte? Sonst würden die Grünen nicht ständig Migranten aufnehmen wollen, wenn sie ein Schlauchboot sehen.
Die Gemeinden sind voll von Platz für Migranten sagen sie, bloß für die Einheimischen sind sie nicht verfügbar, wegen Datenschutz, weshalb man auch die Zweitwohnsitze nicht erheben kann. Wie viele Menschen treffe ich analog an einem Tag? Ein Psychologe empfiehlt hundert minus Lebensalter. Also dreißig Stück, wie kriege ich die zusammen, wenn niemand mehr analog verkehrt?

Wie viele treffe ich am Spaziergang? Wie viele erkenne ich in einem gegnerischen Auto, wie viele klingeln mich am Radweg nieder, wenn ich ohne Helm unterwegs bin?
Wie viele Leute wohnen eigentlich in meiner Umgebung? Früher einmal hat sich das nach der Ergiebigkeit der Wasserquelle ausgerichtet. Ich muss also fragen, wie viele wohnen an meinem Trinkwasserstrang, und wie viele, die ich nicht kenne, müssten dürsten, wenn mein Trinkwasserstrang abgedreht würde. 

Wir wissen zwar um den Blutdruck Bescheid, aber nicht, was er mit uns macht. Wir wissen alles von der Stadt, aber nicht, was sie uns macht. 

Ab und zu decken sich subjektives und objektives Empfinden, also die digitalen Zahlen im Netz mit den analog angesprochenen Pixeln im Körper.
Seit es am Wochenende nicht mehr fünfhundert Flüge am Innsbrucker Airport gibt, sondern fünf, ist das Lebensgefühl eindeutig besser geworden.
Dafür fahren jetzt fünfhundert schwere Maschinen am Wochenende ums Haus, damit der Lärmpegel wieder stimmt. 

Sogenannte Eigenheiler empfehlen übrigens, ab und zu einen Tag lang die digitale Welt zu meiden, das Smarty wegzulegen und das Netz vom Stecker zu nehmen.
Selbst professionelle Eigenheiler sind überrascht, wie stark die körpereigene App letztlich ist, ein wahrer Kampfbomber gegen den Kapitalismus, denn sie ist ja kostenlos.

STICHPUNKT 20|33, geschrieben am 11.10. 2020

Geboren 1953. Ist seit Gerichtsverfahren 1987 gerichtlich anerkannter Schriftsteller, bis 2018 als Bibliothekar an der ULB Tirol. Als Konzept-Schriftsteller hält er sich an die These: Ein guter Autor kennt jeden Leser persönlich.

Etwa 50 Bücher, u.a.:
* BIP | Buch in Pension | Fünf Bände (2020-2024)
* Anmache. Abmache. Geschehnisse aus dem Öffi-Milieu. (2023)
* Austrian Beat 2. [Hg. Schneitter, Schönauer, Pointl] (2023)
* Verhunzungen und Warnungen. | Geschichten, entblätterte Geschichten, verwurstete Geschichten. (2022)
* Outlet | Shortstorys zum Überleben (2021)
* Antriebsloser Frachter vor Norwegen | Austrian Beat (2021)
* Tagebuch eines Bibliothekars | Sechs Bände (2016-2019)

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