Helga weiß, dass sie bald sterben wird.
Obwohl jeder Mensch nur einmal stirbt, ist sie sich sicher. Gleich ist es soweit. Sie kann es fühlen.
Helga ist Ende 70 und hat ein Leben lang auf sich und ihren Körper geachtet. Doch jedes Gefährt hat seine Endhaltestelle. Irgendwann ist es an der Zeit auszusteigen.
Die Wohnung, in der die Rentnerin seit über zwanzig Jahren alleine lebt, liegt am Rand der Stadt. Sie kennt das Gefühl die Letzte im Bus zu sein. So auch heute.
Nur die blonde Frau im Fernseher ist anwesend. Sie verliest die Nachrichten, während hinter ihr bunte Graphen nach oben und unten schießen.
„Mal geht es nach oben. Dann wieder nach unten. Die Linien, die von Krankheit und Tod erzählen, sind wie das Leben selbst. Ein ewiges auf und ab. Schon lustig“, denkt Helga einen letzten Gedanken.
Ihr Atem wird immer schwerer. Sie kann die Fernbedienung nicht mehr halten und legt sie auf das braune, alte Ledersofa, auf dem sie sitzt. Halb liegend. Versunken. Und doch bereit auszusteigen.
Die Luft im Raum wird stickig. Die Haushälterin kommt nur noch alle zwei Wochen, seit das mit der Pandemie angefangen hat. In den letzten Tagen hatte Helga keine Kraft zu lüften. Und auch keine Lust. Für wen? Die Familie war seit Monaten nicht mehr hier. „Um mich zu schützen.“
Allmählich verschwindet die Welt, in der Helga in den letzten fast 80 Jahren gelebt hat. Nur die Standuhr scheint sich zu sträuben. Als wolle sie Helga nicht gehen lassen, tickt sie mit jedem Schlag ein wenig lauter.
Tick. Tack. TICK. TACK. TICK. TACK. TICK. TACK.
Der Bus ist pünktlich.
Es klingelt an der Tür.
„Ist da jemand?“, will Helga fragen. Doch da ist sie schon ausgestiegen.