Franz befindet sich seit sieben Jahren im wohlverdienten Ruhestand. Ein Leben lang hat er für andere geschuftet, nun hat er Zeit für sich. Viel Zeit.
47 Jahre diente Franz im öffentlichen Dienst. Zum Abschied bekam er eine Schachtel Pralinen, einen Whisky und einen laufwarmen Händedruck. Franz ist trockener Alkoholiker und hat Diabetes Typ 2.
Im Sommer trifft sich die ganze Familie regelmäßig im Garten von Tochter Annabell. Ein wunderschöner Garten mit alten Obstbäumen, einer Kräuterschnecke, Hochbeeten und genügend Platz, um die Corona-Abstandsregeln einzuhalten. Franz mochte diese Zusammenzünfte früher sehr. Als Stadtplaner hatte er stets spannende Geschichten zu erzählen. Kinder und Enkelkinder hingen an seinen Lippen. Seit sieben Jahren ist das anders.
Franz scheint Pralinen, Whisky und Zeit für sich, gegen Unsichtbarkeit eingetauscht zu haben. Seit er den lang ersehnten Ruhestand angetreten hat, will ihm niemand mehr so richtig zuhören.
Auch heute, an einem lauen Frühsommerabend, sitzt Franz am Tischende und starrt vor sich hin. Der Kaffee ist längst kalt, das Stück des zuckerarmen Topfenkuchens zur Hälfte verzehrt. Drei Mal wollte er ein Gespräch beginnen und seinen Kindern davon erzählen, dass seine Frau Annelise und er nun einen Impftermin bekommen haben. Und, dass sein Lieblingsverein vergangenes Wochenende endlich einmal wieder gewonnen hat.
„Jaja, Papa. Schau mal was Justus gebastelt hat“, fällt ihm seine Tochter beim vierten Versuch schon wieder ins Wort.
Freunde beschreiben Franz als ruhigen, besonnenen Menschen, den niemals etwas aus der Fassung bringen könnte. Als Menschenfreund, der in seiner Freizeit stets für andere da ist und während des Jugoslawienkriegs sogar zwei Flüchtlingskinder bei sich und seiner Frau aufgenommen hat.
Heute brodelt es in Franz. Wut sammelt sich unter der Bauchdecke und steigt wie weiße Glut Zentimeter für Zentimeter nach oben in Richtung Rachen. Franz ist dagegen machtlos. Schon wieder muss er seiner musisch minder begabten Enkeltochter beim Flötespielen zuhören. Dabei möchte er doch nur von seinen Sorgen erzählen. Dass er Angst davor hat, seine Frau könnte sich mit Corona infizieren oder die Impfung schlimme Nebenwirkungen verursachen. Dass er sich darum sorgt, in welcher Welt seine Enkelkinder aufwachsen. In Zeiten von Klimawandel und Überalterung. Doch niemand will ihm zuhören. Nach dem fünften Versuch gibt er auf und schreit:
„Diese Ausländer gehören alle raus. Oder eingesperrt. Diese Tiere. Diese Schweine!“
Endlich hören ihm alle zu.