Der Katalane Victor Obiols wurde als Übersetzer für Amanda Gormans Gedicht „The Hill We Climb“ abgelehnt, weil sein „Profil“ nicht passe. Zuvor schon hatte eine niederländische Übersetzerin das Handtuch geworfen, weil ihr als weißer Europäerin auf Twitter die Fähigkeit abgesprochen wurde, das Leiden der Schwarzen* Bevölkerung Amerikas richtig zu übersetzen.
Victor Obiols hat die Absage der Agentin akzeptiert, wobei offenbar niemand so recht weiß, aus welcher Ecke der Anlass dazu kam. Wenn die Autorin selbst kein Vertrauen zu einem Übersetzer hat, aus welchen Gründen auch immer, dann ist das fraglos zu akzeptieren. Sollte hier aber die in den USA bereits fatale Folgen zeitigende, ausufernde Cancel-bzw. Woke-Culture dem Druck eines (imaginierten?) betroffenen Publikums geschuldet sein oder von den Verlagen vorauseilend Zensur geübt werden, dann ist das Ende aller Kunst eingeläutet.
In den USA wird ja an Universitäten und gegen Journalisten bereits häufig mit brutalen Shitstorms reagiert, wenn jemand zu Belangen einer gendermäßig, rassisch, religiös oder sonstwie gearteten Gruppe das Wort ergreift, der er/sie nicht selbst angehört. Auch die Literatur bleibt davon nicht verschont. Aus einer apodiktischen Identitäts-Haltung heraus werden wissenschaftliche Lehrkräfte diffamiert und Journalisten entlassen. Natürlich ist es richtig, einen Menschen jederzeit darauf hinzuweisen, wenn dieser sich in unserer Gegenwart im Ton vergreift oder jemanden bzw. eine Gruppierung fehlinterpretiert oder kränkt. Zu solchem Einzelprotest sollten alle von Klein auf ermuntert und ermächtigt werden. Doch einem Menschen von vorneherein die Fähigkeit zur Empathie abzusprechen, nur weil er oder sie einer anderen Gruppierung zugerechnet wird, das ist Rassismus, Sexismus, Faschismus mit umgekehrten Vorzeichen.
Besonders fatal wird eine solche Haltung, wenn es um zentrale Bereiche der Meinungsfreiheit und der Freiheit von Wissenschaft und Kunst geht.
Aus diesem rigiden Blickwinkel wären Othello und Desdemona völlig missratene Figuren, denn Shakespeare war weder Schwarz noch eine Frau. Oder man denke an Gert Voss´ grandiose Darstellung des Othello — Unmöglich! Verboten! Blackfacing! Shakespeare hätte auch keinen „Kaufmann von Venedig“ schreiben dürfen, denn jüdisch war er unseres Wissens nicht. Zeittypisch antisemitisch war er jedoch schon. Dürfen wir das Stück deshalb heute, auch mit entsprechend kritischen Augen, nicht mehr sehen? Und was würde aus all den mordlüsternen Texten der Literaturgeschichte, die von braven Staatsbürgern erfunden wurden, welche selbst höchstens einen Strafzettel für Falschparken als kriminelle Erfahrung vorzuweisen haben? Aus den berührenden Sozialstudien des 19. Jahrhunderts, von Großbürgern verfasst? Aus den kitschigen Liebesgeschichten, die keiner je so erlebt hat oder erleben wird? Aus all den fiktiven Millionärsfiguren, von bitterarmen Autoren ersonnen und von ebenso bitterarmen Lesern in glücklicher Fantasie nachgelebt? „Madame Bovary“ und „Anna Karenina“ und „Onkel Toms Hütte“ hätten nie das Licht der Welt erblickt und ich selbst dürfte, oh Graus! – in meinen Büchern nur noch das Schicksal gutbürgerlicher pensionierter weißer Frauen in Tirol beschreiben!
Auch sämtliche Filmkunstwerke und die meisten bildnerischen Menschendarstellungen würden auf dem Müll landen. Dirigentinnen und Violinvirtuosinnen dürften keinen Bach interpretieren, etc. Die absurde Liste verbotener Kunst verlängerte sich ins Unendliche.
Natürlich gibt es Kunstwerke, die nur aus einer ganz eng gefassten Betroffenheit heraus entstehen und die daher kaum von jemandem außerhalb dieses Erfahrungshorizontes ganz genau nachempfunden oder gar übersetzt werden können. Die schmerzvollen Bilder einer Maria Lassnig hätte wohl kein Mann so malen können – Van Goghs Selbstbildnisse keine Frau. Dennoch bin ich überzeugt, Maria Lassnig konnte Van Gogh verstehen. Sie hätte sich jedoch niemals angeboten, ihn ins Weibliche zu „kopieren“. Es liegt immer im alleinigen Auftrag des Künstlers und in der alleinigen Verantwortung eines Übersetzers, ob er oder sie sich zutraut, die Darstellung eines anderen zu bewältigen oder nicht. Ein gutes künstlerisches Ergebnis hängt dabei nicht unbedingt von gemeinsamer Gruppenzugehörigkeit ab.
Und überdies: Alle Kunst, auch die Kunst des Übersetzers, setzt neben der Beherrschung der künstlerischen Mittel nicht nur Einfühlungsvermögen und Wissen und Respekt gegenüber dem Dargestellten voraus, sie erfordert sogar zwingend eine gewisse Distanz, egal ob zeitlich, räumlich oder personell. „Voice“ und „Experience“ sind gute Voraussetzungen, erzeugen jedoch nicht schon per se Kunst. Und jeder gute Autor, ebenso wie jeder gute Übersetzer, kann sich aufgrund seiner menschlichen Erfahrung, seiner Fantasie und Sprachgewalt und vielleicht einer überdurchschnittlichen Zahl an Spiegelneuronen durchaus glaubhaft in die Lebenswelt eines anderen einfühlen. Wenn sich dann dabei männliche und weibliche, weiße und Schwarze Perspektiven mischen, wäre damit vielleicht sogar etwas gewonnen? (Zu all diesen Unwägbarkeiten gesellt sich zu allem Unglück ja immer auch noch die prinzipielle Frage nach der Übersetzbarkeit eines Kunstwerkes … ) Und doch: Vielleicht entsteht gerade so Welt-Literatur.
Denn der Leser, die Leserin will schließlich in bislang unbekannte Lebenswelten eintauchen, neue Perspektiven entdecken. Wofür sonst wäre Kunst da? Und sollte eine künstlerische Darstellung für die real Betroffenen allzu unglaubwürdig oder schmerzlich sein, dann gibt es dafür ja die Kritik und den Verriss. Doch jedes Anecken und allen Schmerz schon im Vorfeld ausschließen zu wollen, das ist Zensur in ihrer reinsten Form, von welcher nur Diktatoren träumen.
*Die Großschreibung des Adjektivs „schwarz“ ist auch so ein neumodischer Versuch, der Bezeichnung der nicht-weißen Hauptfarbe etwas wie sprachliche Hochachtung zukommen zu lassen. Ob sich diese Schreibung durchsetzen wird, wird sich erst zeigen. Aber ich schließe mich diesem Sprachversuch vorläufig einmal an und warte zu, was dabei herauskommt.