Auf dem Feuilleton-Sektor sind generell zwei Strömungen vertreten. In der einen glaubt man, ein Thema ausgeben zu müssen, weil sonst den Autorinnen nichts einfällt, in der zweiten ist das Thema frei, weil es ja die Aufgabe des Schriftstellers ist, etwas zu erkennen und zu einem Thema zu machen. Über Jahrzehnte betrachtet interessiert wahrscheinlich nicht so sehr, was Autorinnen in den 1950er Jahren über das Thema Nervenkrankheit geschrieben haben, sondern eher, wer eine solche hatte und warum sie ihn befallen hat. Dieses Zufallsbeispiel soll zeigen, dass der Schreibnutzen bei freier Themenwahl etwas größer ist.
Die Lehrer unter den Feuilletonisten huldigen freilich der Themenausgabe, da können sie besser korrigieren und kommentieren, weil alle das gleiche schreiben, und so individuelle Schattierungen leichter erkannt und ausgemerzt werden können.
Die „Schreibkraft“ ist so ein Themen-gebundenes Feuilleton-Unternehmen, die jüngste Ausgabe beschäftigt sich mit dem Begriff „ordinär“. Das Heft wird in Graz gemacht, und Menschen außerhalb der Steiermark nehmen nun an, dass in der ehemaligen Literaturhauptstadt ein halbes Jahr lang über Ordinariate und Ordinäres diskutiert worden ist.
Dem ist aber nicht so, denn die Autorenschaft setzt sich aus Menschen in und außerhalb von Graz zusammen, nicht gerade international, aber immerhin österreichisch-patriotisch, die meisten Autoren kommen aus Universitätsstädten und schreiben im einheitlichen Stil der Bachelor, wie er jetzt in ganz Europa üblich, wenn nicht gar Pflicht ist.
Das Thema „ordinär“ wurde offensichtlich ausgegeben, weil es mehrdeutig ist. Den Aktualitätsbezug stellt die Redaktion über jene Alltagsfügung her, wonach alles wieder normal werden wird, wenn die Pandemie vorbei ist. Das Normale dürfte dann zum Ordinären werden, zumindest was die trivialen Alltagsverrichtungen betrifft.
Zum Wesen des Feuilletons gehört es, dass dieses ein Thema nicht verdichtet, sondern aquarelliert, um nicht zu sagen auswäscht. Das Feuilleton ist jener Teil des literarischen Flusses, wo es in die Breite geht, wobei selbst der pure Schotter einen Sinn ausspuckt.
Ein Feuilleton lässt sich daher wie kaum eine andere Literaturgattung mit gleicher Münze rezensieren, in diesem Falle also als Feuilleton. Dennoch sollte der verschriftlichte Meta-Kegel überschaubar gehalten werden, für die ordinäre Nummer bedeutet das, dass aus den siebzehn Beiträgen zum Thema nur drei herausgegriffen werden, weil sie sich unmittelbar auch mit der Thematik des Feuilletonierens beschäftigen, also wesenskonsistent sind.
Mathis Zojer überlegt sich einen genialen Trick, mit dem sich jedes Thema feuilletonistisch abarbeiten lässt. Wie wäre es, wenn wir es wie der Kapitalismus machen? Dieser verwendet ja auch eine Welt als Ressourcen, die wir gar nicht haben. Wir könnten also beim Diskutieren so tun, als hätten wir eine zweite Welt, wo wir all jene Begriffe und Thesen unterbringen, die in der sogenannten echten Welt keinen Platz haben. Das Feuilleton wäre dann eine Art Übungsschule, worin Denker ausprobieren könnten, was sie später einmal verwenden wollen, sollte das Denken überhaupt noch gefragt sein.
Überhaupt kommt es beim Feuilleton auf das Getue an. Bei der Lektüre eines echten Feuilletons steht das Rascheln einer riesigen Zeitung im Mittelpunkt, wenn das ganze Kaffeehaus merkt, dass hier jemand umblättert und an einem riesigen Thema liest. Im Wienerischen muss an dieser Stelle das Wortspiel ausgerufen werden, das Feuilleton ist etwas, was mich „anfeut“ (aufregt).
Denkweise und Habitus im Feuilleton gleichen übrigens dem Taubengang, das Tier ist ständig damit beschäftigt, den Kopf vor oder hinter den Körperschwerpunkt zu bringen. Selbst einzelne Begriffe geben keine Ruhe, sodass man sich damit beschäftigen könnte, immer ist der Begriff seiner Bedeutung voraus oder hinkt hinten nach, ein edler Taubengang eben, den die Termini hinlegen, wenn man ihnen intellektuell „nachgucken“ will.
Mathis Zojers „Die terminologischen Tauben“ steht mustergültig an der Eingangspforte zum Ordinär-Cluster, aus dem Aufsatz lässt sich die Ermunterung herauslesen, dass man nach der Methode Taubengang jedes Thema im Feuilletonwesen bewältigen kann, es handelt sich also um ein Archi-Feuilleton.
Franziska Bauer analysiert das Wort ordinär im alltäglichen Sprachgebrauch. Sie stößt dabei auf die Vermutung, dass wir etwas dann als ordinär bezeichnen, wenn wir normal meinen, aber in der Verwendung des Wortes über das Ziel hinausgeschossen sind. Dahinter steckt die Überlegung, dass sich ständig alles verändert, manchmal merken wir es mehr, dann wieder weniger. Wenn wir die Veränderung mit dem neuen Sprachgebrauch kalibrieren, kommt es manchmal zu Divergenzen, eine davon ist das Ordinäre.
Marco Rauch bemerkt aus ähnlichem Erkenntnisstand heraus, dass das Ordinäre vor allem im Sexuellen auftaucht, weil dort die Kalibrierung zwischen Phantasie und Aktion selten gelingt. Eines von beiden schießt über das Ziel hinaus und wird ordinär. Er nennt seinen Beitrag „Aufklärung“, weil es ein Witz der Begriffsgeschichte ist, dass im Deutschen das hehre Ziel der Aufklärung im Alltagsgeschäft heruntergebrochen wird auf sexuelle Informationen, die man sich hinter vorgehaltener Hand erzählt. Ordinär ist vor allem das, was man beim Aussprechen mit der Hand abdeckt. Der Autor überlegt noch ein bisschen, ob ihm ein drastisches Beispiel dafür einfällt, dann kommt er auf die Idee, das Ordinäre als explodierte Vorhaut zu beschreiben. Sagenhaft ordinär!
Ein Bonmot aus dem Feuilletonsektor besagt, dass das Lesen eines solchen Textes doppelt süchtig macht, die Titel sind meist so klug gewählt, dass man unbedingt weiterlesen muss, und die Texte sind so raffiniert, dass man nicht mehr aufhören kann.
Schreibkraft ist also ein Magazin für Süchtige und Suchteinsteiger. In der neuen Nummer lässt es sich hervorragend ordinär sein, ohne dass jemand einen Schaden davontrüge, selbst die Etikette bleibt sauber.
Schreibkraft: ordinär. Das Feuilletonmagazin. Heft 36/37.
Graz: edition schreibkraft 2021. 152 Seiten. EUR 6,-. ISBN 978-3-902106-31-5.
Schreibkraft-Redaktion: Hermann Götz, Hannes Luxbacher, Andreas R. Peternell.
GEGENWARTSLITERATUR 2988, geschrieben am 13.05. 2021