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Bremswege

Führt die sanfte Bremsung direkt in die Untergang?

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Wir rasen im Reisebus gerade mit zunehmender Geschwindigkeit auf stark abschüssiger Strecke auf diverseste Kipp-Punkte zu. Da vorne, am Ende der bisher so gerade verlaufenden Strecke, das wissen wir alle, lauern ein paar tückische Kehren und darunter, wenn wir die Kurven nicht sehr bedacht anfahren, der Abgrund.

Man hat sich die Wegstrecke inzwischen auf der Karte ja genau angeschaut. Doch unser Busfahrer gibt immer noch Gas, weil seine Firma ihn für jeden zurückgelegten Meter nach alten Geschwindigkeits- und Zeitrechnungen bezahlt. Keiner hat mit eingerechnet, wie brüchig und löchrig die alte Straße inzwischen geworden ist. Man hat die Straßenpolizei zwar seit langem aufgefordert, hier Fahrverbote oder wenigstens strikte Geschwindigkeitsbegrenzungen vorzugeben. Doch das wurde zuerst ewig durchdiskutiert und schließlich salomonisch gelöst: Man könne zwar Geschwindigkeitsbeschränkungen aufstellen, heißt es, aber das sei unbeliebt und daran halte sich eh keiner.

Also hat man einen Kompromiss ausgehandelt: Man setzt das Tempolimit erst hinter dem Steilstück und der engsten Kurve an, dann kann jeder, der es für notwendig hält, bis dahin weiter rasen, wie es ihm gefällt, er muss halt selber aufpassen und rechtzeitig ganz scharf bremsen. Alles eine Sache der Eigenverantwortung. Manche haben ja angeblich ein besseres Bremssystem als andere. Man hats nur nie ausprobiert auf dieser Strecke. Naja. Wird sich schon irgendwie ausgehen. Und wir, als Mitreisende, klammern uns am Vordersitz fest und denken: Scheiße! Die Reiseleitung lässt uns einfach mit diesem Bus zur Hölle fahren, wenn der Wahnsinnige am Steuer nicht endlich zu bremsen beginnt!

Und im Kopf versuchen wir uns panisch auszurechnen, ob es sich mit der allgemein bekannten Bremswegformel ausgehen wird, wenn der Fahrer jetzt, auf den letzten Metern, sogar noch beschleunigt, um noch ein wenig Vorsprung herauszuschinden, bevor mit der freien Fahrt gleich da vorn in der steilen Kehre endgültig Schluss ist.

So also schaut unsere sich täglich verkürzende Zukunftsstrecke aus, auf der die EU und unsere Regierenden sämtliche Klimawandel-Bremsen seit Jahren und Jahrzehnten nach hinten verschieben. Die Gefahrenstelle vor uns ist zwar längst bekannt, aber die Brems- und Reaktionsstrecke davor viel zu lasch angesetzt. Nicht einmal diskutiert und re-evaluiert darf werden, wo die Stopp-Schilder aufzustellen wären.  

Von CO2-Steuern auch noch keine Spur. Und die Mini-Kerosinsteuer beginnt, großartig angekündigt, 2023 bei null und steigt dann zehn Jahre lang sachte an. Die „Neue“ EU-Agrarpolitik soll ebenfalls grad einmal zu einem Viertel klimaschonende Maßnahmen fördern — und das nach Ermessen der jeweiligen Nationalstaaten. Als ob die nicht schon seit Jahrzehnten ermessen hätten, nichts zu unternehmen! Also überall Ausnahmen und Erleichterungen, damit die Vollbremsung ganz, ganz sachte ausfällt und ja den uralten Wirtschaftsmotor nicht schädigt. 

Die CEOs, die auf die Weiterführung des immergleichen Geschäftsmodells setzen, und deren Lobbyisten freuts, denn jetzt können sie noch eine Zeitlang so richtig Gas geben und Geld scheffeln. Wahrscheinlich stellen die „Wirtschaftslenker“ sich vor, dass sie sich kurz vor dem Abgrund per Schleudersitz schon selbst werden retten werden. Oder, ebenso wahrscheinlich: Sie können es sich gar nicht vorstellen, dass alles einmal, und zwar bald, ganz anders sein wird als bisher Die armen Beifahrer gehen halt wieder einmal den Hang runter, das war ja immer schon so, da kann man nichts machen.

Diese Bosse und deren politische Vertreter haben längst vergessen, dass es zum Leben nicht nur Geld braucht. Dass Ökonomie aus viel mehr besteht als aus Geld. Zum Beispiel aus Trinkwasser und Kartoffeln und Weizen und Reis und Meeren voller lebender Fische. Dass eine florierende Wirtschaft auch Arbeiter braucht, die das Geld erarbeiten, anstatt irgendwem aus Verzweiflung den Kopf einzuschlagen. Und unsere Tourismuswirtschaft, das sei unserem Obersten Touristiker, der die Einschränkungen und Veränderungen lieber nur anderswo angeht, gesagt, braucht Berge nicht bloß zum Schifahren, was in Notzeiten ungefähr das Unnützeste ist, was es gibt. Es braucht vor allem Berge, die nicht jedes Frühjahr im tauenden Permafrost niederbröseln und mit Muren die Dörfer und Wege verschütten.

Es braucht also insgesamt ganz vieles zum Leben und ganz anderes als das, was viele „Führungskräfte“ heute für ökonomisch unverzichtbar halten. Wirtschaftswachstum und Aktienpakete, Boni und Wertanlagen kann man nämlich nicht essen. Das ist es nicht, wovon wir im Ernstfall leben können. Und im schönsten Penthouse werden die Hitze und der Rundblick auf eine Wüste das Leben auch für die reichsten Leute unerträglich machen. Die Millionenvilla am Strand wird in absehbarer Zeit von stinkend brackigem Meerwasser überflutet sein. Und der schnelle Wagen, an dem sie so hingen, dass sie sich von uns Pauschalreisenden keinesfalls einbremsen lassen wollten, wird einmal traurig und unnütz im Abgrund vor sich hin rosten.

Geboren 1954 in Lustenau. Studium der Anglistik und Germanistik in Innsbruck Innsbruck. Lebt in Sistrans. Inzwischen pensionierte Erwachsenenbildnerin. Tätig in der Flüchtlingsbetreuung. Mitglied bei der Grazer Autorinnen und Autorenversammlung Tirol, der IG Autorinnen Autoren Tirol und beim Vorarlberger AutorInnenverband. Bisher 13 Buchveröffentlichungen.

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