(c) Helmuth Schönauer

Alpenscheiße

4 Minuten Lesedauer

In loser Folge stellt das Alpenfeuilleton Ereignisse, Schicksale oder Gegenstände vor, die das Zauberwort „Alpen“ genetisch in sich tragen.


Obwohl wir manche Wörter wie selbstverständlich jeden Tag in den Mund oder Darm nehmen, ist der öffentliche Nachweis ihrer Verwendung manchmal sehr schwer möglich. 

Sei es der Datenschutz, eine verborgen wirkende Maßregelung aus Kindertagen, oder schlicht die Peinlichkeit, dass einem etwas Peinliches widerfahren ist: Das Wort Alpenscheiße lässt sich nur schwer im öffentlichen Diskurs unterbringen.
Dabei wird es nicht nur häufig, ja beinahe schon getaktet verwendet, auch das Einsatzgebiet ist mannigfaltig, kann doch in den Alpen jederzeit eine Situation eintreten, die nach diesem Ausruf verlangt. 

Aus hunderten Absturzgesprächen von Flugzeugpiloten wissen wir, dass die Crews in neun von zehn Fällen das Wort „shit“ gebrauchen, wenn sie dem Tod ins Auge sehen. Bei der Auswertung der Flugschreiber erröten die Ermittler regelmäßig, wenn den Piloten schon wieder nichts Besseres eingefallen ist als dieses ominöse Wort. Selbst Trainings am Flugsimulator können diesen spitzen Todesruf nur schwer aus dem Sprachzentrum tilgen. Kaum wird es ernst, drängt sich diese zusammengeknüllte Semantikkapsel schon wieder aus dem Mund und wird zum Schrei. 

Aus hunderten Alpinabstürzen wissen wir, dass auch Bergsteiger sich an die Terminologie abstürzender Piloten halten, wenn es soweit ist. Da die Felspiloten selten mit Aufzeichnungsgeräten ausgestattet sind, und auch die Körper-Swatch nur die Erregung, nicht aber ihren akustischen Verlauf aufzeichnet, sind wir auf seltene Glücksfälle angewiesen, wenn wir diesen verächtlichen Kommentar zu den Alpen nachweisen wollen.
Manchmal telefoniert jemand noch mit dem Smartphone währen des Absturzes und beendet ordnungsgemäß den Sturz mit einem „Shit“. Aber nicht immer zeichnet das Gegenüber das Gespräch auf, sodass wir einen Beleg hätten, zumal das Absturzgerät mit dem Unglückskletterer abstürzt und meist wie dieser zerstört wird. 

Eine andere Methode, die Alpenscheiße in die Dokumentationsfähigkeit zu zwingen, besteht aus den berühmten theatralischen Mitteln Botenbericht und Mauerschau. Also, ein Überlebender klettert zu Tal und sagt, das letzte, was er gehört habe, sei Alpenscheiße gewesen. Ein anderer blickt über den Grat wie über eine Mauer und bestätigt, dass jemand abgestürzt sei und Scheiße gerufen habe.

Im Netz wird von einem solchen Fall aus dem Jahre 2019 berichtet. Unter dem Titel „Bergsteigerkatastrophe in den Alpen“ werden die letzten Fügungen einer abstützenden Truppe wiedergegeben: „Scheiße, wir sterben!“ Dabei sollen zehn Bergsteiger zu einer berühmten Tour aufgebrochen sein, der ‚Haute Route‘ quer durch die Alpen. Der Wetterbericht habe für den vierten Tag schwere Schneestürme vorausgesagt, die Verunglückten seinen aber weitergegangen. (Quelle: Google Suchmaschine) 

Für Absturzpsychologen ist das Phänomen interessant, dass die meisten angesichts des Todes wissen, wo sie sich befinden. So sagt selbst ein eingefleischter Alpinist „Karpatenscheiße“, wenn er in den Karpaten abstürzt, und umgekehrt. Das ist wirklich ein Problem, das in der Tierwelt nicht bekannt ist, obwohl über die Jahre gerechnet mindestens so viele Gämsen abstürzen wie Menschen.

STICHPUNKT 21|61, geschrieben am 31.08. 2021

Geboren 1953. Ist seit Gerichtsverfahren 1987 gerichtlich anerkannter Schriftsteller, bis 2018 als Bibliothekar an der ULB Tirol. Als Konzept-Schriftsteller hält er sich an die These: Ein guter Autor kennt jeden Leser persönlich.

Etwa 50 Bücher, u.a.:
* BIP | Buch in Pension | Fünf Bände (2020-2024)
* Anmache. Abmache. Geschehnisse aus dem Öffi-Milieu. (2023)
* Austrian Beat 2. [Hg. Schneitter, Schönauer, Pointl] (2023)
* Verhunzungen und Warnungen. | Geschichten, entblätterte Geschichten, verwurstete Geschichten. (2022)
* Outlet | Shortstorys zum Überleben (2021)
* Antriebsloser Frachter vor Norwegen | Austrian Beat (2021)
* Tagebuch eines Bibliothekars | Sechs Bände (2016-2019)

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