Lili Körber, Begegnungen im Fernen Osten
Im Jahre 1934 unternahm eine junge Frau aus Wien eine ungewöhnliche Reise: mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Wladiwostok, von dort nach Japan, danach nach China, und dann wieder mit der Eisenbahn zurück über Moskau. Ungewöhnlich war das nicht bloß, weil sich da ein weibliches Wesen ohne männliche Begleitung auf den Weg machte; üblicherweise reiste man mit dem Schiff auf die andere Seite der Weltkugel.
Bei der jungen Frau handelte es sich um Lili Körber. Sie war 1897 in Moskau geboren, wo sich ihr Vater als Geschäftsmann aufhielt. Der Erste Weltkrieg vertrieb die Familie, und Lili lebte in der Folge hauptsächlich in Wien. Sie begann sich schriftstellerisch zu betätigen, wobei sie eine Mischung aus autobiographischer Berichterstattung und erzählerischer Gestaltung entwickelte.
Wie so viele junge Leute jener Zeit fühlte sie sich von der Linken angezogen. Wie eng sie sich an die eine oder andere Partei kettete, das habe ich nicht eindeutig recherchieren können. Jedenfalls war sie Mitglied, ja sogar Funktionärin des österreichischen Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS). Ihr „Tagebuchroman“ Eine Frau erlebt den roten Alltag fand weit gestreute Aufmerksamkeit und Anerkennung. Sie hatte sich als Bohrerin in einem Stahlwerk in Leningrad verdingt.
Alles deutet jedoch darauf hin, dass sie sich zunehmend vom dogmatischen Kommunismus Lenin-Stalin’scher Machart löste. Im vorliegenden Buch ist von Parteitreue jedenfalls nichts mehr zu spüren, obwohl ihre linke Weltanschauung durchschimmert; man merkt das an ihrem Interesse an gesellschaftlichen Gegebenheiten, besonders der Lage der Arbeiter, an ihrem wachen Blick für politische Entwicklungen etwa bei der Gewerkschaftsbewegung, und an ihrem Verständnis für Weltpolitik und Geschichte. Das alles aber, wie gesagt, nur im Hintergrund. Um ein penetrantes politisches Pamphlet handelt es sich bei ihrem Bericht sicher nicht. Ganz im Gegenteil: Sie vermittelt den Eindruck, locker und unvoreingenommen zuerst in japanische, später in chinesische Gegebenheiten eingetreten zu sein, und neben scharfer Beobachtung steht immer auch ihre Bereitschaft zu kichern, sie ist niemals einem Vergnügen abgeneigt, sie will, wie man später gesagt hätte, „Spaß haben“. Eben dies verleiht ihren Berichten aber eine einzigartige Qualität, eine unnachahmliche Atmosphäre, vor allem aber – höchste Glaubwürdigkeit.
Das Japan, welches sie kennen lernte, erschien gespalten: Höchste Modernität neben uralter Tradition. Das Kaiserreich war längst in seine imperialistischen Pläne verstrickt. Denen diente unter anderem der Ausbau der Flotte zu einer der stärksten und modernsten der Welt. Auf der anderen Seite mutet die Rolle, welche Frauen zu spielen hatten, geradezu mittelalterlich an. Dieses erstaunliche, schwer verständliche Nebeneinander betont Lili Körber immer wieder.
Weiter mit dem Schiff nach Shanghai. Dort zeigt sich sehr drastisch der Kontrast zwischen reich und arm, zwischen privilegiert und unterdrückt. In Shanghai ist das auch der Gegensatz zwischen Ausländern in ihren Konzessionen und der einheimischen Bevölkerung. In weiterer Folge besucht sie Nanking. Man schaudert bei dem Gedanken, was ihren Bekanntschaften wohl drei Jahre später zugestoßen sein mag, während des notorischen Rape of Nanking, jenem schrecklichen Massaker, welches japanische Truppen dort anrichteten.
Von Nanking reist Lili Körber wieder mit der Eisenbahn nach Hause. Sie macht in Birobidschan Halt, der Hauptstadt der gleichnamigen autonomen jüdischen Republik. Dort gibt’s wie in der gesamten Sowjetunion keine Kirchenglocken. Aber die, erklärt ein Gesprächspartner, hätten wir ohnehin nicht mehr ertragen mögen.
Und warum?
„Weil die Judenpogrome stets von Glockenläuten begleitet wurden.“
Wieder fragt man sich besorgt, wie ihre Gesprächspartner und -partnerinnen wohl die nächsten Jahre überstanden haben (wenn überhaupt) – den Stalin’schen Terror, den Krieg. Lili Körber dürfte sich zu diesem Zeitpunkt keine Illusionen mehr über das Sowjetregime gemacht haben, denn sie unterbrach ihre Reise noch einmal in Moskau, um ihren Freund Franz Koritschoner zu überreden, die Sowjetunion zu verlassen. Sie erkannte, wie gefährlich es für ihn geworden war. Der kommunistische Funktionär Koritschoner blieb jedoch. Er wurde verhaftet und nach dem Nichtangriffspakt vom August 1939 zusammen mit zahlreichen anderen deutschen und österreichischen Kommunisten an die Nazis ausgeliefert, die ihn 1941 in Auschwitz ermordeten.
Diese Moskauer Episode lässt sich allerdings nicht mehr im Buch finden. Was bleibt, ist der wirklich beeindruckende, weltoffene, abgerundete Bericht einer gescheiten, mutigen, selbständigen Frau – die Häufung von Adjektiven dürfte bereits das Maß meiner Bewunderung widerspiegeln. Es ist erstaunlich, wie unbekannt Lili Körber nach wie vor ist. Sie hätte sich wahrlich mehr Aufmerksamkeit verdient! Wie ich gesehen habe, sind manche ihrer Bücher antiquarisch zu bekommen. Ich selbst hab’ das Buch aus der Stadtbücherei Innsbruck, wo’s die Gefährtin meines Lebens mehr oder weniger zufällig ausgewählt hat. Also: Auf zur Bibliothek, einschreiben wenn nötig, ausleihen.
Lili Körber, Begegnungen im Fernen Osten: Eine Reise nach Japan, China und Birobidschan im Jahre 1934 (Wien: Promedia, 2020). Erstmals erschienen 1936.
„Lili Körber“, https://www.afeu.at/kultur/literatur/2021/11/20481/lili-koerber/
„Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland“, https://www.afeu.at/kultur/literatur/2021/12/20643/eine-juedin-erlebt-das-neue-deutschland/