In loser Folge stellt das Alpenfeuilleton Ereignisse, Schicksale oder Gegenstände vor, die das Zauberwort „Alpen“ genetisch in sich tragen.
Die Häufigkeit eines verwendeten Wortes sagt noch nichts aus über die Häufigkeit des Sachverhalts, den das Wort beschreibt.
(Manche Sätze muss man einfach in einen Wittgenstein-Duktus hineinzwängen, damit sie Aufmerksamkeit erheischen und für wahr gehalten werden.)
Der Alpenkot ist so ein Phänomen. Überall liegt er herum, jeder Köter, der in den Alpen abkotet, macht ihn, und nur weil wir Alpenmenschen das griffige „Sch*-Wort“ zur Hand haben, nehmen wir kaum den Kot in den Mund.
Der Alpenkot wird von Biologen gerne als Halb-Lebewesen angesehen, weil er sich ständig verändert, in Konsistenz und Form häufig neue Varianten entwickelt und ungehemmt auf den Menschen losgeht. Daher werden manchmal Vergleiche mit einem Virus getroffen. Mutation, Letalität, Bekämpfung und Impfung passen sowohl auf den Alpenkot im engeren als auch auf das Alpenvirus im erweiterten Sinn.
Höchstens bei der Maske hinkt der Vergleich ein wenig, es sind kaum Fälle bekannt, wo sich jemand mit einer Maske gegen den Kot geschützt hätte. Freilich, was die Belästigung durch Geruch betrifft, schützt manchmal ein Alpenfächer oder eine Alpenmaske, um diesen zu vertreiben.
Wie bei allen Alpen-Begriffen beachtet der Sprachforscher immer die Historie, die dahintersteckt.
Gibt es eine schöne Stelle in der Literatur, wo der Alpenkot so richtig in seine eigene Konsistenz tritt?
Oh ja! Der bayrische Rechtsanwalt und Sommerfrische-Dichter Ludwig Steub, der den einen als Vorfahre Karl Valentins, den anderen als Vorgänger des sprachgewaltigen aktuellen Ministerpräsidenten Bayerns gilt, hat bei seinen Wanderungen durch Oberbayern keine Mühe gescheut, dem Alpenkot auf die Schliche zu kommen.
„Die Sennerin ist an Werktagen voller Schmutz, welcher sich jedoch kegelförmig verjüngt. Während nämlich die Füße von der Begehung des Trets sich in einem Überschuh von idyllischem Alpenkot züchtig verhüllen und so jedes Urteil über Größe oder Kleinheit trüglich machen, so nimmt die Reinlichkeit nach oben immer zu, über Mieder und Rock, und das Gesicht wird des Tages sogar mehrere Male gewaschen.“
Ludwig Steub, Sommer in Oberbayern [Orig.: München 1862], Seite 25.
Tirol verdankt dem Ludwig Steub (1812–1888) essentielle Beiträge zur sogenannten Älpler-Identität. Er führte das Wort Sommerfrische ein, von dem heute noch ganze Plateaus oberhalb von Bozen zehren, er sparte nicht mit „antiklerikalen“ Witzen, die er sich in seiner „Zwanglosen Gesellschaft München“ holte. Und er begann früh, mit dem Kult des Anderle von Rinn aufzuräumen. Als Freigeist zeigte er den Tirolern, wo sie wirklich wohnen, nämlich mitten im Alpenkot.
Die Tiroler aber blätterten in seinen Reiseschilderungen und überlegten, wo überall sie später einmal ein schiaches Hotel hinbauen würden, damit die kitschigen Geschichten Steubs sinnlos wären.
STICHPUNKT 22|17, geschrieben am 09.02. 2022