Als wir jung waren, da haben wir über unsere Eltern gespöttelt, weil sie im Fernsehen bloß noch seichte Unterhaltung und Krimis sehen wollten. Wie konnte man bloß! Man musste sich doch mit der Welt auseinandersetzen, oder? Mit ihren Problemen!
Inzwischen selbst alt geworden, schauen wir zwar keine seichte Unterhaltung, dafür aber Krimis. Ich persönlich lieg’ fast jeden Abend vor dem Fernseher, hauptsächlich deshalb, weil ich nicht andauernd lesen kann. Da spielen meine Augen nicht mehr mit, sie fallen zu, ich entschlummere sanft. Leider viel zu früh am Abend.
Bei diesen Krimis sind wir allerdings wählerisch. Was schon gar nicht in Frage kommt, das sind brutale amerikanische Thriller mit Geschieße, Schlägerei, Grausamkeiten. Ähnlich ergeht es uns bei deutschen Krimis, zum Beispiel aus der Tatort-Serie. Die sind zwar nicht so gewalttätig, dafür nehmen sie sich selbst zu ernst. Sie sind immer so schrecklich tragisch, tiefsinnig – halt Deutsch. Das wollen wir auch nicht mehr sehen.
Was also dann?
Nun, unsere Vorliebe hat sich auf englische Serien konzentriert, da allerdings auch nicht auf alle. Es gibt eine Art englischer Krimiserie, die mit einem gewissen Etwas daherkommt. Leichtigkeit wäre zu viel gesagt, obwohl sie mitspielt. Ebenso ein guter Schuss Ironie, Selbstironie. Sich selbst nicht hundertprozentig ernst nehmen.
Death in Paradise zum Beispiel. Handlung, Auflösung des kriminellen Rätsels sind (a) nicht besonders feinsinnig und laufen (b) völlig stereotyp ab. Aber das spielt keine Rolle. Worauf es ankommt, das sind die liebenswerten Protagonisten. Für mich steht Dwayne Myers an erster Stelle. Von den wunderschönen weiblichen Protagonistinnen mit ihrem bezaubernden Charme möchte ich lieber nicht anfangen zu schwärmen: Camille, Florence sowie Camilles Mutter, Catherine. Dazu kommt die fröhliche karibische Atmosphäre. Wir können geradezu die feuchte Wärme spüren, wie sie dort den ganzen Körper umhüllt, herrliche Erinnerungen!
Eine Zeit lang liefen Agatha-Christie-Serien: Miss Marple zum Beispiel, oder Hercule Poirot. Agatha Christie garantiert gepflegte, geistvolle Krimi-Unterhaltung. Zur Zeit gibt’s (nicht von Agatha Christie) Miss Fishers mysteriöse Mordfälle. Dabei handelt es sich um eine australische Serie. Sie spielt in den zwanziger Jahren. Wenn schon nichts anderes, so ist die Garderobe der Protagonistin Phryne Fisher in ihrer Eleganz sehens- und beneidenswert. Des weiteren schauen wir gerne die Murdoch Myteries. Die spielen in Toronto in den 1890er Jahren. Und so weiter. Ich will mich nicht in Aufzählungen verlieren.
Es gibt nämlich eine Serie, die für mich fest im Mittelpunkt steht, und das ist der Inspektor Barnaby. Auf Englisch heißt sie Midsomer Murders. Midsomer ist jene fiktive Grafschaft, in welcher diese Kriminalfälle angesiedelt sind; Hauptstadt: Causton. Als Namensgeber diente die Ortschaft Midsomer Norton, die allerdings woanders, nämlich in Somerset liegt. Nicht nur stimmt die Landschaft dort nicht mit jener der Fernsehserie überein, auch der Charakter der Ortschaft dürfte ein völlig anderer sein. Dessen ungeachtet stahlen die ursprünglichen Autoren auch etliche der pittoresken Ortsnamen – Midsomer Magna zum Beispiel, oder Midsomer Morton. Abgesehen davon, gibt’s aber keine Verbindung zwischen dem wirklichen Midsomer Norton und dem fiktiven Midsomer im TV.
Es ist einmal errechnet worden, dass Midsomer in Anbetracht seiner Größe wahrscheinlich die fiktive Krimi-Örtlichkeit mit der höchsten Mordrate ist. Spielte sich das alles in Wirklichkeit ab, wäre längst der Notstand ausgerufen worden.
Im Mittelpunkt der Serie steht, wie das so üblich ist, der untersuchende Kriminalbeamte, in diesem Falle DCI (Detective Chief Inspector) Tom Barnaby. Ihm gehen wechselnde Assistenten zur Hand. Zunächst ist das DS (Detectice Sergeant) Gavin Troy, später DS Ben Jones. Weitere folgen. Des weiteren gibt’s Dr. George Bullard, den Gerichtsmediziner und Forensiker. Im privaten Bereich wäre zunächst Tom Barnabys Ehefrau zu nennen, Joyce, die ständig irgendwelchen mehr oder weniger ausgefallenen Aktivitäten nachgeht und solcher Art in manche der Mordfälle verwickelt wird. Sie ist eine meiner Lieblingsfiguren, I love her. Außerdem gibt’s die Tochter, Cully, die versucht, eine Karriere als Schauspielerin zu starten.
Der eigentliche Reichtum der Serie liegt jedoch in ihren Schauplätzen sowie den auftretenden Figuren. Gedreht wurde hauptsächlich in Oxfordshire, Buckinghamshire, Hertfordshire und Bedfordshire. Dabei handelt es sich um so genannte Home Counties (außer Oxford, um pedantisch zu sein). Dementsprechend idyllisch sind die Lokalitäten: ein Haus pittoresker als das andere, wunderschön gepflegte Gärten, geschmackvolle Inneneinrichtung. Ehrlicherweise muss dazu gesagt werden, dass es auch Ausnahmen gibt; aber sie erscheinen doch recht dünn gesät. Und diese Häuser, diese Ortschaften samt village green und village pub werden von Leuten bevölkert, die in ihrer Exzentrik durchaus als typisch bezeichnet werden dürfen (oder zumindest: nicht untypisch).
Tatsächlich hab’ ich immer das Gefühl, all diese Lokalitäten schon einmal gesehen zu haben, all diesen Figuren schon begegnet zu sein. Dabei bin ich an den eigentlichen Drehorten gar nicht heimisch, bin an den meisten nie gewesen. Mein home turf, meine englische Heimat findet sich in West Berkshire sowie Wiltshire, also ein bisschen weiter westlich. Das macht aber keinen Unterschied. Wenn ich Midsomer Murders schaue, fühlt sich das an wie eine Heimkehr.
Typisch also gerade wegen ihrer Exzentrik: Besucher aus unseren Breiten zeigen sich immer verblüfft vom Ausmaß, in dem sich Engländer und besonders Engländerinnen individuell kleiden, ohne Rücksicht auf die Mode oder das Urteil der Mitbürger – die sich allerdings eines solchen Urteils enthalten. Each to his own. Ich kann mich erinnern, wie meine Freundin Trish eines Jahres, bereits über sechzig Jahre alt, mit kurz geschnittenen, kräftig violett gefärbten Haaren beim Festival Ways With Words in Dartington Hall aufkreuzte. Dieses Festival, seine Teilnehmer sowie die Location würden sich übrigens als ideale Schauplätze für Midsomer Murders-Folgen anbieten. Aber das nur nebenbei. Trish’s knalliges Erscheinungsbild fiel jedenfalls in Dartington Hall kaum auf. Erst als wir eines Abends in einem etwas entfernt liegenden Pub saßen und aufs Essen warteten, erregte sie die Aufmerksamkeit eines Kindes am Nebentisch. Es konnte sich kaum beruhigen, so sehr sich seine Eltern auch bemühten.
Midsomer Murders ist eine höchst populäre Serie, nicht nur bei uns, sondern ebenso in England. Es fragt sich, was sie so beliebt macht. Eine einfache Antwort wird’s, glaube ich, nicht geben. So viele Morde sich da ereignen, und so brutal sie zum Teil ausgeführt werden – was man freilich nie zu sehen bekommt –, irgendwie fehlt der brutale, der tödliche Ernst anderer Serien. Ich möchte nicht behaupten, da sei Ironie im Spiel, aber doch ein gewisser Charme (wenn man den scheinbaren Widerspruch tolerieren will). Da ich die Episoden nun bereits das zweite oder gar dritte Mal sehe, stehen die Kriminalfälle gar nicht mehr im Vordergrund, sondern eigentlich das Verhalten der diversen Gestalten. Das könnte ich mir gut und gerne noch ein paar Mal anschauen.
An dieser Stelle vielleicht ein Wort zu diesem Wieder-Sehen: Zunächst sollte ich betonen, dass ich sehr wohl erkennen kann, wenn ich eine Folge schon gesehen habe. Aber was ihren Inhalt betrifft, wie sie verläuft, wer sich schließlich als Bösewicht entpuppt – das hab’ ich in den meisten Fällen vergessen. In diesem Sinne sehe ich die Episode also zum ersten Mal. Aber nicht ganz: Ich leide nämlich nicht mehr unter unerträglicher Spannung, ich brauch’ mich nicht mehr zu fürchten. Das stellt einen Vorteil dar, welcher nicht zu verachten ist!
Unabweisbar fällt mir Alfred Hitchcock ein, der Meister filmischer Spannung. Im Privatleben, so habe ich einmal gelesen, ertrug er absolut keine Spannung. Nicht die geringste. Er konnte es nicht einmal ertragen, am Morgen, wenn er das Haus verließ, nicht zu wissen, was es zu Mittag zum Essen gab!
Zurück nach Midsomer. Eine Bekannte hat kürzlich leicht verächtlich gemeint, die Serie befriedige die nostalgische Sehnsucht der Engländer nach einer vergangenen Idylle. Das stimmt insofern, als die Idylle nicht nur da ist, sondern vor allem unübersehbar. Aber das bildet doch nicht die ganze Wahrheit. Man nehme bloß die bereits erwähnten Häuser: Jedem Engländer ist völlig klar, dass die Personen, so wie sie dargestellt werden, in Wirklichkeit niemals in solch teuren Liegenschaften wohnen, geschweige denn solche besitzen könnten. Es handelt sich um eine idealisierte Darstellung des Lebens in diesen Ortschaften – National Trust-Dörfer, bin ich versucht, sie zu nennen –, allerdings ist diese Darstellung so offensichtlich idealisiert, dass sie beim besten Willen nicht ernst genommen werden kann. Das, so glaube ich, ist ein wesentlicher Bestandteil der Serie: Die Engländer sehen zwar die Idylle, sie erkennen sie auch als solche, und sie lassen sich allzu gerne von ihr verführen – aber gleichzeitig erkennen sie auch das Künstliche, und so können sie gar nicht anders, als über ihre eigene Nostalgie zu lächeln. Was sie sehen, ist nicht nur typisch englisch (zumindest typisch für die Home Counties), es ist allzu typisch. Aus dem Bewusstsein dieser Doppelbödigkeit ergibt sich jener gute Schuss Ironie, mit welcher die Serie konsumiert werden sollte – und die ihren eigenartigen englischen Charme ausmacht.
Ihre Popularität hat dazu geführt, dass sie auch nach Ausscheiden von John Nettles, dem Darsteller des Tom Barnaby, weitergeführt wurde. In unserem Fernsehen läuft sie bis heute. Wenn der Vorrat an Episoden erschöpft ist, fangen sie von vorne an. Mein einziger Wunsch: auch andere Serien wieder bringen! Lewis, zum Beispiel, oder Inspector Lynley. Im englischen Fernsehen gibt’s übrigens noch mehr Serien von der Art, wie ich sie hier angepriesen habe. Meine Favoriten: New Tricks, oder (gleichrangig) Foyle’s War, das während des Zweiten Weltkrieges spielt. Die Nachstellung dieser vergangenen Welt, dieses period drama, das gehört eindeutig zu den Stärken des englischen Fernsehens.
Genug der Lobgesänge. Wie weit gestreut die Popularität von Midsomer Murders ist, möge folgende Episode verdeutlichen: Da wurde einmal die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einem Staatsbesuch im Vereinigten Königreich erwartet. Der Premierminister damals war David Cameron. Merkel äußerte einen speziellen Wunsch: Sie wollte John Nettles kennenlernen, den Darsteller des Inspector Barnaby.
Aus nicht näher genannten Gründen kam das Treffen nicht zustande. Die deutsche Bundeskanzlerin wurde mit einem DVD-Set abgespeist. Eigentlich ein Affront, wenn man’s recht bedenkt, obwohl Angela Merkel in ihrer bekannt geduldigen Art keinerlei Reaktion zeigte. Aber um derart arrogant unhöflich (oder gar grob) zu sein, dazu braucht es wohl Eton, Oxford und den Bullingdon Club.