Nach zwei Jahren Corona-Beschränktheit trifft man einander wieder – sogar legal und ohne Maskierung – am wöchentlichen Stammtisch. Aug in Auge.
Und man wundert sich, wie weit man meinungsmäßig eigentlich auseinander geraten ist. Oder war man das immer schon? Denn natürlich ist auch der Stammtisch eine wohlige Informationsblase. Und natürlich gab´s auch im Dorf immer schon message-control. So erlebte man den Stammtisch als Ort, an dem man in trauter Gemeinsamkeit auf die Regierung oder wen immer, der gerade das Volk erregte, schimpfen konnte. Wie im Internet, in dem man sich die vergangenen zwei Jahre mit Rechtschreibfehlern mühsam tippend herumgetrieben hatte, wird nun auch wieder am Stammtisch das Geschimpfe und Gesudere mit jedem Bier lauter. Das entlastet ungemein, wenn mit der Regierung stillschweigend auch der Frust über die Ehefrau, den Chef und das Leben insgesamt, abgebaut werden kann.
Doch im Gegensatz zum Geschimpfe auf Social Media sitzt am Stammtisch auch immer eine „Zwiderwurzn“, die zu allem ihr „Aber…!“ vorbringt, wodurch die Debatte erst richtig befeuert wird. Hier kann derjenige, trotz möglichem Shitstorm, noch sein Bier austrinken und sitzt in der nächsten Woche garantiert wieder mit am Tisch und wird vom Wirt bedient. Und gegen die Sperrstunde zu, wenn der Alkohol und der lange Tag manche bereits milder gestimmt haben, kommt manchmal sogar so etwas wie Differenzierung und eine Einigung auf ein agree-to-disagree zustande: „Du magst ja in manchem Recht haben, aber …“ Und dann geht man mehr oder weniger friedlich auseinander und die Erregung bleibt im Dorf, anstatt das Global Village zu überschwemmen.
Diese Notwendigkeit des Streitgesprächs fürs Zusammenleben und insbesondere das in einer Demokratie wird nun auch zunehmend von den Medien wiederentdeckt. In allen Qualitätsmedien gibt es inzwischen pro & contra Dossiers und das Profil widmet sich in seiner vorwöchigen Ausgabe sogar zur Gänze dem Thema „Streiten wir!“ * — Es ist die beste Ausgabe dieses Magazins seit Langem.
Hoffen wir also, dass die schmerzhaften Blasen nun überall aufgestochen werden, bevor sie weiter eitern.
Profil Nr. 23 vom 3.Juni 2022