Wie ich ins Krankenhaus gekommen war, darüber habe ich hier schon geschrieben („Das Mädchen in der Rettung“), ebenso was mir in der Folge durch den Kopf ging („Finstere Wochen“). Nun soll es um die physische Seite der Geschichte gehen.
Ich lag ja nicht zum Nachdenken in der Klinik, sondern zur Behandlung. Die ließ vorläufig aber noch auf sich warten, erst müsse sich mein Gesamtzustand verbessern, wie es hieß. Ich litt unter einem Tumor in der Lunge sowie unter Metastasen im Kleinhirn, von denen meine Beschwerden hauptsächlich herrührten. Was den Tumor betraf, so hatte man mir Mut gemacht. Mitglieder unserer doch ziemlich medizinischen Familie versicherten mir, so ein Tumor sei heute längst kein Todesurteil mehr, vielmehr gut heilbar. Ein Neffe, seines Zeichens Radiologieassistent in Linz, erzählte mir von dem Fall eines vierzigjährigen Mannes, der habe noch lange vergnügt weitergelebt. Und was die Chemotherapien betraf, so seien die längst nicht mehr die Bomben früherer Zeiten, vielmehr gebe es Mittel gegen die Nebenwirkungen, vor allem die notorische Übelkeit.
Da konnte ich also zuversichtlich sein. Trotzdem hatte ich Angst vor der ersten Verabreichung. Die begann am späten Vormittag mit zwei, drei kleineren Infusionen, dem Vorlauf, wie sich die Ärzte ausdrückten. Die eigentlich Chemotherapie bestand aus zwei großen Beuteln. Bevor sie angeschlossen wurden, musste ich jedes Mal mein Geburtsdatum nennen. vermutlich beugte man so Verwechslungen vor.
Ich hatte vorweg einen so genannten Port eingesetzt bekommen. Dabei handelte es sich — laienhaft ausgedrückt — um ein halbrundes Kunststoffbällchen mit einer Membran am Boden. Die wurde, wenn ich das richtig verstanden hatte, mit einer Vene verbunden. Der Port wurde operativ unter der Haut eingesetzt, was den Vorteil hatte, dass er in der Folge nicht weiter störte. Für die Infusionen brauchte er bloß einmal angestochen und mit einer kurzen Leitung versehen zu werden — mein Nippel, wie ich mich auszudrücken pflegte. Was auch immer in der Folge in mich hineinfloss, brauchte nur noch angeschlossen zu werden. Sehr praktisch, wie ich fand, ein weiterer Fortschritt der Medizin. Der Port ist übrigens immer noch drin, ohne dass ich ihn spüre oder auch nur daran denke.
Die Chemotherapie bestand aus zwei großen Beuteln mit Flüssigkeit. Sie wurde durch ein elektronisches Dosiergerät verabreicht. Das dauerte mehrere Stunden. Glücklicherweise konnte ich dabei lesen, sofern ich nicht vor mich hin dämmerte. Ich lernte sogar, mit dem stangenartigen Gestell aufzustehen, an dem Flasche baumelte. So konnte ich, es vorsichtig vor mir her schiebend, selbstständig aufs Klo gehen, was in Anbetracht der Menge an Flüssigkeit, die in mich hinein tröpfelte, des öfteren notwendig wurde. Ich konnte mich sogar zum Essen an den Tisch setzen, immer das stangenartige Gestell neben mir.
„Mein Exoskelett“, pflegte ich zu sagen.
Es wurde Abend, ehe die Infusionen zu Ende waren. Am nächsten Tag ging’s weiter, nicht mehr ganz so lange, und am darauffolgenden Tag ein weiteres Mal. Nebenwirkungen spürte ich keine. Selbst Geschmack und Appetit blieben mir erhalten. Die einzigen Folgen waren Müdigkeit und Mattigkeit. Aber die hielten vorerst nicht lange an.
Nach dem ersten Durchgang an Chemotherapie sollte ich am Kopf bestrahlt werden. Auch davor fürchtete ich mich, wie man vielleicht verstehen wird. Die Rettung führte mich nach Innsbruck. In der ersten Sitzung wurde lediglich mein Kopf genau vermessen, dann passte man mir eine Maske an. Es handelte sich um lauwarmes durchbrochenes Kunststoffgewebe, das mir so ähnlich wie ein Waschlappen aufs Gesicht gelegt wurde. Es erkaltete und erstarrte eng anliegend, wurde wohl auch vom Personal nachgeformt. Die Maske wurde mit Schienen versehen, welche in passende Gegenstücke am Gerät eingeschoben und arretiert wurden. So sollte garantiert sein, dass sich der Kopf stets in der gleichen Lage befand, und dass er sich nicht bewege konnte. Angenehm war das nicht gerade, und ich hab‘ von Leuten gehört, die die Prozedur kaum oder gar nicht aushielten. Allerdings dauerte sie nicht allzu lange. Das Eigentümlichste war ein seltsamer Geruch, der sich entwickelte.
Eines Tages kam ich ambulant in die Strahlentherapie. Zu diesem Zwecke gab’s das so genannte Strahlentaxi, bezahlt von der Krankenkasse (tu felix Austria!). Ich hatte mir angewöhnt, mich daheim schon aller Dinge zu entledigen, die ich ablegen musste oder die ich sonst nicht brauchte. Dazu zählten auch die Zahnprothesen. Nun wurde aber wieder einmal ein Bluttest genommen, und nach kurzer Zeit erschien ein junger Doktor, ziemlich erregt, wie mir schien.
„Lassen Sie sich sofort in Ihr Krankenhaus bringen,“ sagte er alarmiert.
„Was ist denn?“
„Die weißen Blutkörperchen. Die sind so niedrig, es besteht höchste Ansteckungsgefahr.“
Und als ich Einwände erheben wollte, befahl er nur: „Sofort. Dringend.“
Und so fand ich mich wenig später alleine in einem Zimmer im Krankenhaus wieder. Ich hatte absolut nichts bei mir. Kein Handy, nicht einmal alle Zähne. Dabei war es verboten, Pakete abzuliefern. Nichts, aber schon gar nichts durfte die Schwelle der Anstalt überqueren.
Was sollte nun werden?
Zum ersten Male verzweifelte ich. Als ich da am Tisch saß, da kamen mir die Tränen. Ich fühlte mich so hilflos, nackt beinahe. Der Oberarzt, der mich untersuchte, begriff meine Lage und setzte sich bei der Klinikleitung dafür ein, eine Ausnahme zu machen. Begleiterin und Behüterin, von ihm verständigt, durfte eine Tasche abgeben. Erst als die eingelangt war, fühlte ich mich sicherer. Sie hatte ein wahres Meisterwerk an Umsicht und Nichtt-Vergessen vollbracht.
In weiterer Folge gingen die Chemotherapien im dreiwöchigen Takt weiter. Dazwischen gab’s Perioden, da bekam ich so genannte Erhaltungstherapien, diese allerdings ambulant, ich musste also nicht im Krankenhaus bleiben, kam zu Mittag wieder heim. Diese Therapien hatten die unangenehme Eigenschaft, atemberaubende Rückenschmerzen zu verursachen. Nach dem ersten Auftreten wusste die Schwester aber Bescheid, brach die Infusion ab und verabreichte ein Schmerzmittel, welches sie schon vorbereitet hatte. Danach konnte die Therapie fortgesetzt werden. Trotzdem gestaltete sich die Fahrt zur Ambulanz jedesmal wie der Gang nach Canossa.
Das ging so bis weit ins dritte Jahr hinein. Da bekam ich ein paar Wochen Urlaub, sozusagen, ehe ich mich wieder zu einer Untersuchung zu melden hatte. Kurz bevor es soweit war, trat die Gürtelrose auf. nicht schmerzhaft, darf ich vermelden, aber doch. Also: Wieder einmal Rettung, Klinik, dieses Mal die Hautklinik in Innsbruck. Die junge Doktorin in der Ambulanz wollte mich stante pede einweisen. Aber ich bockte — völlig untypisch für mich. Ich hatte so fest damit gerechnet, am Abend wieder zu Hause zu sein!
Sie war leicht verzweifelt, wie mir schien. Begleiterin und Behüterin hatte inzwischen einen Neffen angerufen, der hatte Dienst an der Anästhesie, und der wusch mir per Handy ganz gehörig den Kopf. Also ließ ich mich gehorsam (und voll der Reue) aufnehmen.
Auch diese Episode ging vorbei, dank sachkundiger und durchaus liebevoller Pflege. Ich durfte wieder heim. Zu diesem Zeitpunkt war ich, wenn auch nur unter größter Vorsicht, selbständig mobil. Ich konnte ins Bad oder aufs Klo gehen. Eines Tages tappte ich von dort zurück zu meinem Bett, da verlor ich plötzlich das Gleichgewicht und fiel hin. So — jetzt ging das Theater wieder los. Rettung, Notarzt, Krankenhaus, Röntgen. Glücklicherweise war nichts gebrochen, nur geprellt.
In meinem Krankenhaus, wo ich den Kontrolltermin hatte, steckten sie mich in den Computertomographen. Leider fielen die Ergebnisse enttäuschend aus. Der Tumor war nicht, wie das die Ärzte erhofft hatten, zurückgegangen, eher im Gegenteil, und die Metastasen offenbar auch. Sie boten mir eine weitere Chemotherapie an, eine andere Substanz diesmal, die versprach zwar nur geringe Erfolgsaussichten, dafür würde sie beträchtliche Nebenwirkungen verursachen. Ich lehnte dankend ab. Ich wollte das einfach nicht mehr. Die Ärzte verstanden meinen Wunsch sehr gut, keinerlei Einwände oder Überredungsversuche. Somit war ich austherapiert.
Aber was tun mit jemandem wie mir? Der Oberarzt brachte das Hospiz ins Spiel, und zu seiner Überraschung war ich sofort einverstanden. Mir ging’s um die Sicherheit, vor allem aber um die längst überfällige Entlastung der Begleiterin und Behüterin meines Lebens. Was die in den vergangenen zweieinhalb Jahren mitgemacht hatte! Sie sollte endlich einmal etwas unbeschwerter leben können.
Na ja, und da stehen wir jetzt. Mir geht’s gut, danke sehr, Schlaf, Appetit, alles da. Vorläufig.
Ich hab das alles aufgeschrieben mit der Absicht, dem einen Leser oder der anderen Leserin vielleicht ein kleines bisschen Mut zu machen. Natürlich gilt das nur strikt individuell; punktuell, könnte man sagen. Aber es muss nicht immer so verheerend kommen, wie man’s sich vorstellt. Vielleicht spendet das sogar ein bisschen Trost?