Wann haben Sie das letzte Mal etwas wirklich Überraschendes in der TT gelesen, außer vielleicht die Glossen von Alois Schöpf?
Wann haben Sie das letzte Mal etwas wirklich Überraschendes im STANDARD gelesen, außer vielleicht das Dramolett des Antonio Fian?
Na ja, werden Sie sagen, das ist ja das Geheimnis der Pressefreiheit, dass überall das Gleiche drin steht.
Denn Nachrichten sind eine Ware, die reglementiert ist wie beispielsweise Lebensmittel.
Dort regt sich schon längst niemand mehr auf, dass alles gleich schmeckt, weil es ja dem Lebensmittelgesetz unterliegt.
Die Nachrichten-Uniformität hat naturgemäß auch auf die Fiktionen übergegriffen.
Jeder Tatort ist ein Tatort, jeder Roman ein Roman. – Du hast längst die Hoffnung aufgegeben, auf etwas Überraschendes zu treffen.
Am ehesten tritt eine kleine Irritation ein, wenn der Kommissar einer Tatort-Gegend ausgetauscht wird, oder ein Preis-Romancier den anvisierten Preis verfehlt, weil ein gekauftes Jurymitglied bei der Abstimmung kurzfristig erkrankt ist.
Eine kurze Erwartungsstörung tritt seit einiger Zeit auch bei der digitalen Nutzung der Medien TT und STANDARD auf.
Es schaltet sich nämlich jeweils ein Button über den Artikel, wonach man sich anmelden soll, damit der Zugang zum Text frei würde.
In penetranter Regelmäßigkeit wird darauf hingewiesen, dass man das Medium abonnieren solle, damit es weiterhin Pressefreiheit gäbe.
Dieser Geschäftsvorschlag wäre durchaus o.k., wenn daraus ein gerechtes Geschäft resultieren würde. Also der User zahlt etwas und bekommt dafür eine Neuigkeit erzählt.
Jedoch handelt es sich im Falle dieser Nachrichten, die man gegen Gebühr wie einen Akku entladen soll, um kein Produkt, das sich zu erstehen lohnt.
Professionell Lesende wissen längst, wie STANDARD und TT funktionieren. Sie stellen eine Klienten-Blase zur Verfügung, aus der in kleinen Dosen Affirmation der eigenen Gesinnung abgelassen werden kann.
Die TT, im Volksmund liebevoll „Touristisches Tagblatt“ genannt, stellt etwa achtzig Prozent ihres Textes unter das touristische Okular. Da wird über Auslastung gejammert, Innovationen aus dem Hotelbetrieb poppen auf, die Kultur wird strahlend erwähnt, wenn sie Teil einer Übernachtung ist.
Selbst die Verkehrsunfälle sind noch danach unterteilt, ob die Verunfallten ihr Schicksal auf dem Weg in die Unterkunft oder auf Durchreise getroffen hat.
Ähnliches spielt sich im STANDARD ab, wenn sich das Auge den lachsfarbenen Datenträger entlangtastet. Die Themen stammen alle aus dem Wiener Neunten Bezirk, wo stündlich neues Bobo-Design kreiert wird. Im mittleren „Buch“ geht es ums Gendern, und im beigefügten Magazin ums Radfahren.
Als Literatur werden meist Bücher vorgestellt, denen ein Literaturredakteur gerade als Jury-Mitglied einen Preis verpasst hat.
Zustimmung am Lesebutton hieße für die Leser, dass sie zustimmen, ausgenommen zu werden.
Denn wo immer du hinein-scrollst oder was immer du auch an-liest: Du erfährst nur Dinge, die dieses Geschäftsmodell nicht stören.
Im Geschäftsmodell dieses Abnick-Journalismus kommt das Nachrichten-neugierige Ich gar nicht vor. In diesem Modell nämlich nickt die Redaktion bloß jene Beiträge ab, die zuerst die Werbeabteilung akquiriert hat.
Dieses Modell funktioniert nicht einmal bei Säugetieren während einer Versuchsanordnung zum Zeitunglesen. Nach dreimal Drücken der Buttons haben Versuchstiere den Dreh heraus, dass hinter den Überschriften keine Überraschung steckt und wenden sich mit Gähnen ab.
Nur eingebildet höhere Wesen klicken Artikel an, die nichts hergeben.
Für den durchschnittlichen Bedarf eines in Österreich Wohnenden genügt es, wenn er die blauen Seiten des ORF durch-scrollt. Dafür hat er nämlich schon seinen Pflichtbeitrag in Gestalt der GIS geleistet.
Und der Rest lässt sich auf Foren in Deutschland oder anderswo nachlesen. Es besteht bei der geistigen Verfasstheit Österreichs kein Grund, jenseits des ORF noch etwas anzuklicken, damit aus dem Knopfdruck ein Geschäft entsteht.
STICHPUNKT 22|70, geschrieben am 22.08. 2022