Eine Groteske
Unser Haus wird von Alten bewohnt, die ein Leben lang nichts anderes im Auge gehabt haben, als in den eigenen vier Wänden zu sterben.
Rechtzeitig und bei vollen Geisteskräften sind wir seinerzeit alle aus der Kirche ausgetreten, damit man uns nicht beim Sterben über den Tisch zieht, nachdem man einige von uns ein Leben lang über diesen gezogen hat.
Natürlich kommen jetzt keine Sternsinger mehr zu uns, wir können also nicht mitreden, wenn sie im Nachbarhaus über Blackfacing reden und Brunnenbohrungen in der Sahelzone.
Damit wir nicht einsam sind und uns zu Weihnachten was antun, schickt man uns mehrmals im Jahr eine Clowntruppe.
Wir sind der Sozialfürsorge der Stadt sehr dankbar dafür, dass sie an uns denkt und uns zum Lachen bringen will.
Das wäre zwar um diese Zeit zwar nicht notwendig, denn wir sind stabil, weil wir ein schönes Motto haben:
„Weihnachten ist entweder selber schön oder dann, wenn es vorbei ist.“
Jetzt ist es also soweit, die Roten Nasen kommen wie am schwarzen Brett angekündigt, und wir sagen artig gegendert Clowninnen zu ihnen, denn es sind drei Frauen, für jedes Stockwerk eine.
Überall wird geläutet, und wer kann, stellt sich mit dem Rollator vor die Wohnungstüre und schaut dem Treiben zu, das die Künstlerinnen an den Tag legen.
Bei genauerem Hinsehen sieht man, dass eine der Performerinnen eine grüne Nase hat, denn sie kommt direkt aus dem Vorzimmer vom Bürgermeister.
Ich werde gleich zu Beginn gefragt, warum ich nicht lache. Da muss ich gestehen, dass ich farbenblind bin und die roten Nasen nicht sehe.
Man hat Einsehen und wird mir nach der Vorführung eine unbeknollte Clownin schicken, die jetzt noch draußen im Auto sitzt und wartet und hofft, dass der Auftritt nicht zu lange dauert.
Diese Warte-Nase ist ausgebildete Poetry-Slammerin und wird mir anschließend etwas mit fliegenden Wörtern vorjonglieren, wenn die Roten Nasen sich später im Gesicht entkleiden und im Fahrzeug Platz nehmen werden.
Da ich jetzt nicht auf die Nasen achten muss, habe ich Zeit, das restliche Outfit zu begutachten. Dabei fällt mir auf, dass alle unter der Dreiviertelhose dynamische Socken tragen.
Als ich nachfrage, was das soll, erklärt man mir, dass es sich um rote Socken handelt, die genau so lustig sind wie die Nasen.
Demente Patientinnen nämlich blicken stur zu Boden und sehen daher die erhellenden Nasen nicht, weshalb man ihnen rote Socken in das Blickfeld stellt, damit sie lustige Schimmer erleben und kurz auflachen.
„In der Kürze singt die Würze“, sagt jemand, aber niemand singt, weil die Zeit für Performance schon vorbei ist.
„Und jetzt husch husch bis zum nächsten Mal!“
Zu mir kommt noch die Chauffeurin und trägt mir emotionslos einen Satz vor, den ich selber geschrieben habe, als ich das Buch „Petrow hat Fieber“ für das Alpenfeuilleton rezensiert habe.
„Es ist schwer, den gelernten Beruf wieder loszuwerden!“
Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie mich mit meinen eigenen Worten in meiner Farbblindheit erheitern will.
STICHPUNKT 23|11, geschrieben am 01.02.2023