(c) Helmuth Schönauer

Die Themen kommen mit dem Schauen! – Auf Probe im Tagesheim. 

Jetzt habe ich ein paar Wochen lang Glück gehabt, aber einmal musste es ja passieren: Die Psychologin fängt mich im Eingangsbereich des Tagesheimes ab und fragt mich, wie es mir geht.

Sie schaut auf ihr Handy, wo sie mich samt Passbild eingespeichert hat und sagt:

– Herr Rudi, Sie wünsche also, dass Sie mit „Herr Rudi“ angesprochen werden.

So beiläufig begleitet mich die Fachkraft für Lebenssinn, wie die Psychologinnen hier genannt werden, an meinen Lieblingsplatz, an dem ich immer schreiben darf, wenn ich meine Zeit im Tagesheim absitzen muss.

Die Psychologin gibt mit genug Zeit, dass ich mich sammeln kann. Ich bin zwar schon ein Leben lang ziemlich gefasst, was meine Aufgabe auf dieser Welt betrifft, aber ich gebe mich ein wenig fahrig wie in einem postmodernen Roman.

Währenddessen schaue bereits durch die große Seniorenscheibe hinaus in ein Gartenimitat, wo auf drei Bäumen vier Vögel sitzen.

– Ich lass mich hier als „Herr Rudi“ ansprechen, weil ich unter meinem richtigen Namen sofort bestürmt würde, Interviews zu geben. Mein richtiger Name gleicht nämlich jenem eines Tiroler Schriftstellers, der lange Zeit Furore gemacht hat und jetzt als tot gilt, zumindest was sein Werk betrifft.

– Dann will ich noch wissen, warum Sie nicht wie andere raffinierte Übungen zum Zeittotschlagen machen, sondern unbedingt am Fenster sitzen, hinausschauen und schreiben wollen?

– Das hängt mit meiner Zeit als Beamter zusammen. Ich habe ein Leben lang in einem kleinen Büro gesessen und aus dem Fenster geschaut. Ich habe mir sogar den Titel eines „Marathon-Schauers“ erarbeitet, weil ich vierzig Kilometer am Stück hinausschauen konnte, ohne dass mir die Luft ausgegangen wäre. Daher vergeht mir die Zeit immer noch wie im Nu, wenn ich aus dem Fenster schaue. Ich brauche also keine gesonderten Übungen hierfür.

Die Psychologin scrollt noch ein bisschen in meiner Akte, die wie ein Tiktok-Beitrag aufgebaut ist und das Wesentliche meines Lebens beinhaltet.

– Dann Herr Rudi wünsche ich Ihnen weiterhin viel Erfolg. Schreibzeug haben Sie ja wieder mit, wie ich sehe. Ich kontaktiere Sie dann wieder in ein paar Wochen, wenn sich ihr Akt aus Datenschutzgründen selbst gelöscht hat.

Meine Übung beginnt nach dem raschen Durchschreiten des Foyers mit dem korrekten Ansteuern meines Sitzplatzes in Front der Seniorenscheibe. Diese Scheibe ist deshalb so groß geraten, damit der Gärtner draußen die Senioren drinnen beobachten kann, wenn er Vögel verscheuchen oder Laub zusammen rechen muss.

Schon während ich mich niedersetze, entfalte ich das DIN-A-6 Büchlein am Lesebändchen und ziehe die Füllfeder heraus. Eine Tintenportion reicht für einen Nachmittag, und mehr als sechs Stunden sitze ich nie an der Scheibe.

(Mit einem Tintenfass komme ich in normalen Jahren locker ein Jahr lang aus, erst in letzter Zeit verbrauche ich ein zweites, nachdem durch den Klimawandel auch im Tintenfass viel Flüssigkeit verlorengeht.)

Die Themen kommen mit dem Schauen!

Diesen Satz aus einer Schreibwerkstatt habe ich mir vorne ins Notizbüchlein hineingeschrieben, sodass ich immer gleich loslegen kann, ohne lange brüten zu müssen.

Heute schreibe ich übungshalber und aus therapeutischen Gründen einen Brief an irgendjemanden in einer lauten Gegend, der wahrscheinlich ähnlich verstört ist wie ich, wenn der Lärm in der Luft nicht mehr aufhört.

Die Natur hat uns angegriffen, wir müssen uns verteidigen! – Irgendwas stimmt nicht mit dem Satz.

STICHPUNKT 24|40, geschrieben am 12.05. 2024

Geboren 1953. Ist seit Gerichtsverfahren 1987 gerichtlich anerkannter Schriftsteller, bis 2018 als Bibliothekar an der ULB Tirol. Als Konzept-Schriftsteller hält er sich an die These: Ein guter Autor kennt jeden Leser persönlich.

Etwa 50 Bücher, u.a.:
* BIP | Buch in Pension | Fünf Bände (2020-2024)
* Anmache. Abmache. Geschehnisse aus dem Öffi-Milieu. (2023)
* Austrian Beat 2. [Hg. Schneitter, Schönauer, Pointl] (2023)
* Verhunzungen und Warnungen. | Geschichten, entblätterte Geschichten, verwurstete Geschichten. (2022)
* Outlet | Shortstorys zum Überleben (2021)
* Antriebsloser Frachter vor Norwegen | Austrian Beat (2021)
* Tagebuch eines Bibliothekars | Sechs Bände (2016-2019)

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