… wenn Sie sich zunehmend weniger spüren.
Auf der Gefühlsebene zeigen sich derzeit zwei Entwicklungstrends
Seit längerem fällt mir auf, dass es
- immer mehr Menschen gibt, die ihre Gefühle kaum noch wahrnehmen und sich selbst zunehmend weniger spüren,
- während gleichzeitig die Zahl jener Menschen ansteigt, die außerordentlich feinfühlig und empfindsam sind.
Können Sie diese Entwicklungstendenz ebenfalls beobachten? Merken auch Sie, dass sich ihre Gefühlswelt verändert und sie dazu neigen
- zunehmend weniger oder
- immer mehr zu spüren?
Dann befinden auch Sie sich im aktuellen Gefühlsentwicklungstrend.
Unbedingt mehr lesen. Der persönliche Blog von Psychotherapeutin und Autorin Brigitte Fuchs.
Die Feinde unserer Empfindsamkeit
In den nächsten Beiträgen werde ich unter anderem vermehrt über Spüren, sich nicht mehr spüren, Feinfühligkeit, Hochsensibilität oder Hochsensitivität schreiben.
Doch beginnen möchte ich mit einem Beitrag über die Feinde des Spürens, darüber, was uns das Spüren erschwert.
Jene, die sich zunehmend weniger spüren, wandeln vermehrt auf diesen Spuren. Aber auch jene, die feinfühliger werden, reagieren auf diese Dynamiken. Es ist also durchaus günstig, wenn wir um diese Dynamiken wissen.
Aber nun zu einigen der Feinde unseres Spürens, die wir kennen sollten.
Die aktuelle Situation unterstützt einen Verlust des Spürens
Seit Jahren beobachte ich, wie die aktuellen Gegebenheiten eine schwierige Dynamik anstoßen. Es ist eine Dynamik, des „sich immer weniger Spürens“.
Aktuell gibt es einige Entwicklungen, die sehr schwierig für unser Spüren sind. Einige davon wären:
- Die Außenorientierung
- Eine ungeschulte Wahrnehmung
- Eine Leistungsgesellschaft, in der ein sich Nicht-Spüren günstig ist und ein Spüren wenig Wert hat
- Die Informations- und Reizflut, auf die wir treffen
- Eine Anhäufung von negativen Botschaften
- Eine Geschwindigkeit der Ereignisse, mit der unser Bewusstsein nicht mithalten kann.
Eine Außenorientierung wird ein „Sich-Spüren“ nicht begünstigen
In unserer anfänglichen Entwicklung weisen wir eine Außenorientierung auf. Unsere Wahrnehmung richtet sich nach außen – auf die anderen und auf die Welt.
Diese Außenorientierung führt aber dazu, dass wir weniger nach innen und somit weniger auf uns selbst achten. Dort liegt aber der Ausgangspunkt unseres Empfindens.
Spüren ist nichts, das außerhalb von uns stattfindet. Unsere Empfindsamkeit ist tief in uns eingebettet.
Die bewusste beobachtende Wahrnehmung richtet sich weder nach außen, noch bezieht sie sich auf andere. Ein typisches Beispiel für ein verstandesmäßiges Beobachten wäre der Wissenschaftler. Er betrachtet die Welt, die anderen und versucht, mittels seiner äußeren Beobachtungen Erkenntnisse zu gewinnen. Die neugierige Nachbarin, die stets am Fenster der Wohnanlage steht, wäre ebenfalls bezeichnend dafür. Beim verstandesmäßigen Betrachten richtet sich der Fokus nach außen. In dieser Form des Beobachtens entfernen wir uns von uns selbst und nehmen uns selbst nicht mehr wahr.
Wenden wir uns uns selbst zu, werden wir zum Wissenschaftler unserer selbst. Die bewusste beobachtende Wahrnehmung richtet sich auf die inneren Prozesse. Wir beobachten unsere psychischen Prozesse. Aus dem: Buch des bewusst seins, Seite 218
Nur diesen Schritt machen wir nicht mehr, wenn wir unsere Wahrnehmung nur nach außen richten.
Eine ungeschulte Selbstwahrnehmung erschwert das Spüren
Der nächste Punkt ergibt sich aus dem vorherigen. Denn dort, wohin wir unsere Aufmerksamkeit richten, dort nehmen wir auch wahr.
Je weniger wir aber nach innen blicken,
umso weniger nehmen wir wahr,
was in uns vor sich geht.
Doch damit nicht genug! Achten wir wenig oder nicht auf unser Empfinden, schwächt dies unsere Selbstwahrnehmung. Richtet sich unsere Aufmerksamkeit nicht auf unser Empfinden, nehmen wir – langfristig betrachtet – unsere Empfindungen nicht nur weniger, sondern auch weniger differenziert wahr.
Nutzen wir unsere spürende Wahrnehmung nicht in einem ausreichenden Maße, wird diese auch nicht geschult und im schlimmsten Fall verkümmert sie.
Leider scheint es derzeit für viele Menschen keinen sonderlichen Wert zu haben, sich zu spüren.
Eine Leistungsgesellschaft wird ein „Sich-Spüren“ nicht fördern
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Auch wenn das „reine Funktionieren“ mittlerweile ein wenig in Frage gestellt wird, ist es dennoch positiv besetzt.
Spüren ist individuell, spüren ist lebendig und in einer Leistungsgesellschaft ist wenig Raum für Individualität und Lebendigkeit.
Um aber „so zu funktionieren“, müssen wir unsere lebendigen Impulse oftmals übergehen. Wir verlassen unser Spüren und machen Dinge, die wir vielleicht gar nicht machen wollen, die keine Bedeutung für uns haben, oder die uns gar nicht entsprechen.
Je mehr wir in einer Dynamik des Funktionierens landen, umso eher verdrängen wir unser Spüren. Falls Sie dieses Thema interessiert, finden Sie mehr darüber in einem früheren Beitrag von mir: Vorsicht: Burnoutgefahr! Funktionieren versus spüren.
Auch Menschen, die sich normalerweise gut spüren, werden in einer Phase, in der sie auf ein Funktionieren zurückfallen, erleben, dass ihr Spüren vorübergehend zurückgeht.
Die größte Herausforderung für unser Spüren – die Flut an Reizen, denen wir ausgesetzt sind
Wir leben in einer Welt, in der eine unsagbare Flut an Informationen und Reizen auf uns einprasselt.
Über das Internet hat sich in kürzester Zeit eine völlig neue Welt entwickelt. Welche Auswirkungen das auf uns hat, haben wir noch gar nicht wirklich verstanden.
So beobachte ich seit Jahren, wie
- kleinste Kinder in ihrem Kinderwagen auf ein Handy oder Tablett starren,
- Eltern auf ihr Handy blicken, während kleine Babys versuchen, in Kontakt mit ihnen zu kommen,
- Freunde beisammensitzen und jeder in sein Handy sieht,
- Paare wortlos nebeneinander ins Handy blicken …
Es macht mich betroffen, wenn ich das sehe und gleichermaßen habe ich Verständnis dafür. Die digitale Welt übt eine große Faszination und Verführung auf uns aus und wir hatten noch gar nicht ausreichend Zeit um zu lernen, adäquat mit dieser Verführung umzugehen.
Wenn das „Unechte“ intensiver wird als das „Echte“
Die Wirklichkeit kann nur schwer mit der digitalen Reizintensität mithalten. Eine wirkliche Beziehung wird nie so romantisch oder spannend sein wie ein Liebesfilm aus Hollywood.
Die digitale Welt ist aufregend, sie ist spannend. Dort gibt es immer etwas Neues. Im Vergleich dazu ist die Realität oft ein wenig langweilig, vielleicht sogar „fad“. So mag uns die „unechte Welt“ intensiver und somit erstrebenswerter erscheinen, als die „echte Welt“.
Doch dabei stehen wir vor einem Problem:
- Je weniger wir uns spüren umso stärker ist die Faszination der digitalen Welt auf uns! Doch
- je mehr wir uns an der digitalen Welt orientieren und uns darin verlieren, umso weniger spüren wir uns selbst!
So verfangen wir uns leicht in einer ungünstigen negativen Spirale, die den Verlust des Spürens vorantreibt.
Die Reizüberflutung erschwert ein „Sich-Spüren“
All die Informationen und Reize, auf die wir treffen, sind nicht nur aufregend und spannend, sie führen auch zu einer Überreizung.
Wir werden in einem Ausmaß von Informationen und Reizen überflutet, die wir gar nicht mehr wirklich verarbeiten und verdauen können.
Unsere Psyche konnte sich noch nicht an diese Informations- und Reizflut anpassen.
Psychisch können wir mit so einer Dichte an Reizen nur schwer umgehen. So schnell, wie wir in der Zwischenzeit Reize konsumieren können, so schnell können wir diese gar nicht verarbeiten.
Sehen wir Nachrichten an, kommt eine Information nach der nächsten. Was davon wissen wir noch am Ende der Nachrichten? Und was haben all diese Informationen mit uns gemacht? Wir haben gar keine Zeit mehr nachzuspüren, ob diese Nachricht etwas in uns auslöst oder nicht.
Nur noch wenige Ereignisse schaffen es, uns innerlich so stark zu berühren, dass wir noch etwas dabei spüren. Das liegt nicht nur an der Informationsflut, sondern auch an der Häufung der negativen Botschaften.
Zu viele negative Botschaften sind nicht bekömmlich für unser Spüren
Die voranschreitende Digitalisierung hat dazu geführt, dass wir mit einer unendlichen Fülle an negativen Informationen konfrontiert werden.
Nie zuvor wussten wir – innerhalb kürzester Zeit – welch schlimme Ereignisse in der Welt vor sich gehen. Aber nicht nur, dass wir darüber informiert werden, wir können diese oftmals sogar hautnah über Live-Übertragungen miterleben.
Zu glauben, dass all dies keinen Einfluss auf unser Innenleben hätte, wäre wohl ein wenig naiv.
Wir schützen unsere Empfindsamkeit
Negativen Informationen lösen negative Empfindungen in uns aus.
Aktuell werden wir mit einer Unmenge von negativen Informationen und damit einhergehenden Empfindungen konfrontiert.
Unsere innere Empfindsamkeit ist aber zart. Sie ist nicht geschaffen für eine solche Dichte an negativem Erleben. Das ist viel zu viel!
Eine solch geballte Ladung an negativen Empfindungen ist nicht aushaltbar und so werden wir zwangsläufig versuchen, unsere Empfindsamkeit zu schützen. Meist geschieht dies sogar völlig automatisch, ohne dass es uns auffällt.
Unsere Empfindsamkeit kann äußerlich oder innerlich geschützt werden:
- Richtet sich der Schutz nach außen, verweigern wir die Aufnahme von weiteren negativen Nachrichten und konsumieren weniger oder gar keine Nachrichten mehr.
- Wendet sich der Schutz nach innen, holen wir zwar weiterhin negative Informationen ein, lassen diese aber nicht mehr so nah an uns herankommen.
Im zweiten Fall schützen wir uns vor den grausamen Informationen, indem wir uns innerlich vor den damit auftauchenden Empfindungen verschließen.
Wir gewöhnen uns an diese „Grausamkeiten“,
stumpfen ab
und erleben sie dadurch nicht mehr als belastend.
Mit der Zeit sind wir in der Lage, grausame Berichte anzusehen, ohne dass sie uns noch sonderlich berühren.
Das Gemeine an der zweiten Version des inneren Schutzes ist: Auch wenn es nicht mehr so wirkt, als würden all diese Ereignisse etwas in uns auslösen, stimmt das nicht. Unsere Empfindsamkeit reagiert nach wie vor auf all diese Dinge, nur bekommen wir es nicht mehr mit. Siehe dazu auch meinen Beitrag über Gefühle unterdrücken.
Geschwindigkeit verhindert ein bewusstes Spüren
Wenn wir auf Urlaub fliegen bringt uns das Flugzeug innerhalb kürzester Zeit von einem Ort zum nächsten. Ein wenig zu schnell für unser Empfinden. So schnell wie das Flugzeug ist unser Spüren nämlich nicht. So dauert es ein wenig, bis wir innerlich nachkommen und dort sind, wo wir gerade sind. Menschen, die sich spüren, bekommen das mit. Ich sage dazu immer: „Meine Seele braucht noch ein wenig, bis sie nachkommt!“
Wissen Sie, was wir wirklich brauchen, um uns bewusst zu spüren? Wir brauchen Zeit!
- Zeit, um zu uns zu kommen,
- Zeit um wahrzunehmen, was gerade in uns vor sich geht.
Somit ist klar, was ein eindeutiger Feind unseres Spürens ist, es ist die Geschwindigkeit. Je schneller unser Leben verläuft, umso aufregender mag es erscheinen. Wir sind immer mit „dabei“, eilen von einem Termin zu nächsten. Aber nur weil wir äußerlich anwesend sind, bedeutet es noch nicht, dass wir auch innerlich „anwesend“ und „mit dabei“ sind.
Eine zu hohe Geschwindigkeit führt dazu, dass uns der Freiraum für eine bewusste und spürende Wahrnehmung fehlt.
„… Wir müssen innehalten, um überhaupt zu registrieren, was da gerade in uns abläuft. Reagieren wir sofort, nehmen wir uns die Möglichkeit, uns der Situation bewusst zu werden.“ Aus dem Buch des bewusst seins, Seite 167
Sich wieder spüren
Sollten Sie sich in dieser Außenorientierung, Reizüberflutung und Geschwindigkeit ein wenig verloren haben, kein Problem. Der Weg zurück ist möglich. Sie müssen nur
- Innehalten und
- anfangen, sich wieder selbst wahrzunehmen – auch wenn das am Anfang zuerst einmal unangenehm sein wird
- so wie lernen, ihre spürende Wahrnehmung wieder zu schulen.
In einem der nächsten Beiträge werde ich über die Vor- und Nachteile des „sich nicht mehr Spürens“ und des „Sich-Spürens“ schreiben.
In diesem Sinne, passen Sie gut auf ihre Empfindsamkeit auf!