Titanium White, Prussian Blue, Dark Sienna, Van Dyke Brown. Ein Farbenmantra. Keine Musik. Kein Gedudel. Eine absolut unaufgeregte, beruhigende Stimme. Lediglich das Stupfen des Pinsels auf der Palette; das verdeckt, fahrige Wischgeräusch auf der Leinwand; das Schaben, wenn die Spachtel flächig eine kleine Hütte an den Waldrand zaubert. Einzig das fulminante Stakkato, mit dem der Pinsel am Gestänge der Staffelei zur Reinigung ausgeklopft wird, stellt einen immer wieder gerne beobachteten Kontrapunkt dar. Und dazu diese Stimme. Diese in sich ruhende Unaufgeregtheit. Gelassen. Entspannt. Nachtprogramm in irgendeinem dieser deutschen Sender. Die tausendste Wiederholung. Bob Ross. The Joy of Painting. Ein Déjà-vu!
Ein Déjà-vu, das Herbert K. unwillkürlich ein Lächeln entlockte. Ihn innehalten ließ, zum Hinsetzen lud, zum Zusehen, zum Zuhören.
Titanium White, Prussian Blue, Dark Sienna, Van Dyke Brown. Titanium White … Herbert K. spürte, wie sein Innerstes sich beruhigte, die Angespanntheit des Alltags von ihm fiel. Das kindliche Staunen zu ihm zurück kehrte. 30 Minuten. Ein Bild. Ohne Rummel, ohne Spektakel, ohne schwer intellektuelles Gelabber irgendeines Kunsthistorikers. Just do it! Die Routine der Wiederholung. Die Vertrautheit des Erwartbaren. Die Sicherheit des Rituals.
Es wurde für Herbert K. zu seinem kleinen persönlichen Erfolgserlebnis, wenn es ihm gelang, rechtzeitig zu einer neuen, wiederholten Folge von Bob Ross zuhause zu sein. Abschalten. Sich in dieser Stimme und in die eigentlich strengen Abläufe und Abfolgen dieses Malens zu verlieren. Gespannt zu warten, bis er mit seiner Spachtelkante eine kleine Farbzunge Titanium White aufkratzt – eine „Linie“ wie der Gudenus wahrscheinlich sagen würde – und wie damit feine Kontraste blitzlichthaft ins Bild gefügt werden. Die Schatten muss man dann nicht mehr eigens betonen. Das ergibt sich von selbst. Lehrstunden für Herbert K.: Wo Licht ist, ist auch Schatten – es gilt ganz einfach immer selbst im Rampenlicht zu stehen. Der Schatten fällt dann notgedrungenermaßen stets auf die anderen. Bob Ross, der Machiavelli des Herbert K..
Von Folge zu Folge offenbarte sich ihm zunehmend die Genialität dieses Künstlers: Mit wenigen, perfekt geübten und beinahe blind geführten Pinselstrichen ein Bild erschaffen. Bäume, Wasser, Berge, ein kleiner Pfad, etwas Zaun und eventuell noch eine halbverfallene Hütte. Das ist alles. Die Idylle muss immer erkennbar bleiben. Greifbar nahe. Das gilt nicht nur für die Kunst – das ist auch die Kunst der Politik. Die eigenen Highlights setzen und dann breitflächig über alles andere nonchalant drüberfahren.
Es ist das Üben, das tägliche Üben, dieses Exerzieren, dieser Drill, der zum Automatismus der Gestaltung führt. Auch wenn sich Bob Ross mit diesem schrecklichen Afro getarnt hat. Man merkt bei jeder einzelnen Folge, dass er nicht umsonst 20 Jahr lang bei der US-Air Force gedient hat. Schon manch Großer hat sich mit dem Malen versucht!
Ganz im Stillen erstand Herbert K. in einer Pagro-Filiale ein Bob Ross – Einsteigerset. Mit den Grundfarben, ein paar Pinseln und mit der Spachtel.
Titanium White, Prussian Blue, Dark Sienna, Van Dyke Brown … Nein! Trotz aller Mühe. Bob Ross war einfach eine Nummer zu hoch für ihn. Viel zu hoch. Farben, Leinwände, Bilder! Wohin mit seiner Kreativität? Wo anfangen?
Malen nach Zahlen! Präzise. Genau. Militärisch. Mit Übung und Drill. Durchnummeriert. Strukturiert. Sonnenblumen. Van Gogh. Der Kreis hat sich für Herbert K. geschlossen: Van Gogh! Seine Kunst! Sein Ohr! Donald Trump! Wer der Kunst ein Opfer bringt, erstrahlt am Hochaltar der Öffentlichkeit.
Aufgeregt eilte Herbert K. in sein Badezimmer, öffnete die Lade des Spiegelschranks, griff nach seinem Rasiermesser und ließ mit einem leisen „Klick“ die Klinge herausklappen. Welches Ohr? Das linke, das kann weg! Zuvor aber an den Koteletten prüfen, ob das Messer wirklich scharf genug ist! Autsch! – Warmes Blut lief Herbert K. über die Wange. Seine linke Hand, die das Ohr so tapfer dem Schnitt entgegenhielt, begann zu zittern. Es tat doch so schon genug weh!
Und mit einem verschämten Blick in das eigene Spiegelbild ließ er behutsam sein Ohr los, legte das Rasiermesser zur Seite und klebte sich etwas Klopapier über die blutende Stelle. Herbert K. war nun einmal kein van Gogh. Nicht einmal ein Donald.
Aber durchaus konsequent als Opportunist.