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Der Denker

Herbert K. und das stille Örtchen.

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Wenn das Banale und die Kunst zusammentreffen, dann werden sowohl der geistige Horizont als auch der Raum selbst vollkommen neu erlebt, geöffnet, durchlüftet und gereinigt. Metaphern sagen dabei oft mehr aus als jede noch so genaue, technische Beschreibung oder selbst ein Foto.

Metaphern erzeugen Querverbindungen, geistige Fährten zu neuen Aus- und Einsichten, zum noch Nicht-Gesehenen, zum noch Nicht-Gedachten. Erst dadurch erhält ein Satz wie „Die werden sich noch alle anschauen, was so alles möglich ist!“, seine wahre und tiefere Bedeutung. Das Ziel ist es, von der reinen Imitation weg zu kommen und lediglich metaphorisch den Habitus und die Strahlkraft der Vorbilder zu nutzen. Das will gelernt sein. Im Selbststudium und mit Feingefühl. Am besten im stillen Kämmerlein, an einem stillen Örtchen.

Herbert K. vermag sich noch immer lebhaft an sein diesbezügliches Erweckungserlebnis zu erinnern. Es war eine dieser leidigen Familienfeiern, bei denen es zu späterer Stunde stets unweigerlich aufs Politisieren hinauslief und er sich ständig vor irgendwelchen Vettern und Basen, dazugeheirateten Irgendwers ob seiner klaren politischen Haltung zu verteidigen hatte. Oder dies zumindest versuchte. Eine Unmöglichkeit. Sie kannten ihn, nahmen ihn nicht ernst und wenn er gar einmal in seiner Argumentation ein wenig forscher wurde, dann lachten sie ihn einfach aus. Behandelten ihn wie einen kleinen, etwas zurück gebliebenen Verwandten aus dem winzigen Kaff unterhalb der Schneegrenze, wo noch der eine oder andere Kropf von der dringenden Auffrischung durch fremdes Blut zeugt. Solche Momente verlangten von Herbert K. eine schier übermenschliche Selbstbeherrschung, gepaart mit der Einsicht, dass die anwesenden jungen Männer seine körperlichen Grenzen rasch und nachhaltig abstecken würden.

Innerlich kochend, mit vor Wut geröteten Augen und stechblickig wie ein Schilddrüsenpatient verkrümelte sich Herbert K. und suchte nach den Toiletten. Wie bei den meisten von diesen, in den 90er Jahren adaptierten Landgasthäusern, führten ihn die auf Schindelholz handgemalten Pfeile treppab in den ehemaligen Keller. Links die Herren, rechts die Damen. Er öffnete die Tür, ein satter Geruch aus Urin und Pissoirsteinen raubte ihm beinah den Atem. Herbert K. wollte allein sein. Seine Wut, seinen Zorn kalmieren. Seine Demütigung am stillen Örtchen verdauen, von keinerlei Zeugen dieser, seiner intellektuellen Niederlage behelligt. Rot. Jede der drei Kabinen zeigte rot. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Einmal mehr stand Herbert K. vor verschlossenen Türen. Um sein letztes Quäntchen an Würde zu bewahren, trat er zum Waschbecken, drehte kurz das Wasser auf, drückte mit einem Schlag des Handballens den Knopf des Händetrockners und verließ nach einer strategischen Pause die Herrentoilette. Niemand im Vorraum, niemand auf der Treppe.

Auf Zehenspitzen trippelte Herbert K. zur Tür der Damentoilette und öffnete sie. Leer. Behutsam schloss er die Tür und huschte zur ersten Kabine. Frei! Rasch trat er ein, zog die Tür hinter sich zu und riegelte ab. Frei! Freiheit! Allein! Unbeobachtet. Mit spitzen Fingern schloss Herbert K. den Abortdeckel, legte ihn mit Klopapier aus und setzte sich erschöpft nieder. Mit einem Mal fühlte er eine ungeheure Erschöpfung, eine Müdigkeit, eine ungeahnte Müdigkeit, die plötzlich all seinen Selbstzweifeln freie Bahn gaben. Warum lachten sie über ihn? Warum nahmen sie ihn nicht ernst? Warum?

Müde hob er seinen Kopf und sah in sein eigenes Abbild. Was war das? An der Innenseite der Klotür hing ein Spiegel und reproduzierte Herbert K. in seiner Gesamtheit. Wie er dasaß. Vollbekleidet, mit sportlichem Sakko und weißem Polohemd. Der rechte Arm mit dem Ellbogen am linken Knie abgestützt. Sein Kinn ruhte auf der abgewinkelten Hand. Die Denkerpose, Auguste Rodin! Der Denker!

Mit einem Schlag waren alle Wut, Verzweiflung und Betrübnis von Herbert K. gewichen. Er hatte sich selbst gefunden. Seine persönliche Metamorphose kreiert. Herbert K. der Denker!

Akribisch korrigierte er seine Haltung, überprüfte deren Wirkung im Spiegelbild. Ein sinniger Gesichtsausdruck, der Blick verinnerlicht, den Bauch leicht eingezogen, die Schultermuskulatur beherrscht entspannt, die linke Hand auf das rechte Knie gelegt. Der Denker, frei nach Auguste Rodin! Perfekt.

Herbert K. hatte endlich seinen `Locus Politicum´ gefunden. Den Entstehungsort seiner Gedankenwelt lokalisiert. Am Damen-WC eines carinthischen Landgasthofs.

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