(c) Helmuth Schönauer

Tirol ist eine Vergnügungsfläche

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Das neue Herz-Jesu heißt Herz-Fun!

In Scharnitz stoßen ein Regionalzug und ein Familien-Van zusammen. Was ist daran besonders?
Beide Fahrzeuge sind deutsche Blechbürger, die sich auf Tiroler Gebiet ins Gehege gekommen sind.

Auch wenn man niemanden vorverurteilen darf, so dürfte der Van einen größeren Schuldanteil aufweisen als der Train, der leider an die Schienen gebunden war und nicht ausweichen konnte.

Vermutlich wird nach österreichischem Recht ermittelt und die Schuldfrage geklärt. Aber schon keimt die Idee auf, den Unfall in Deutschland zu verhandeln, weil in Tirol ständig das Fachpersonal für alles fehlt.

Unfallmeldungen wie jene aus Scharnitz sind inzwischen die Sonntagslektüre der Einheimischen geworden.
Seit sie wegen des allgemeinen Verkehrsaufkommens am Wochenende nicht mehr vor die Haustüre treten können, sitzen sie in ihren Kellern, die sie zu Medienräumen umgebaut haben, und schauen Verkehrsnachrichten und Unfälle.

Manchmal geschieht ein Ereignis so nahe vor der eigenen Tür, dass die Einheimischen über die Video-Überwachung des Gartens das Unglück beobachten können, ohne aber etwas dafür oder dagegen tun zu können.
Sie sind Gefangene des eigenen Schicksals, weshalb die Vorfahren das Land dem Herz-Jesu gewidmet haben, um wenigstens einen Ansprechpartner für die Hilflosigkeit zu haben.

Wenn nach dem Wochenende die Keller gelüftet werden, drängen mit der abgestandenen Luft muffige Gedanken ins Freie.

– Ja, Tirol ist eben eine große Vergnügungsfläche für ganz Europa geworden, und da müssen wir Einheimischen eben zusammenrücken und daheimbleiben, wenn die Vergnügungssüchtigen kommen.

– Das Land ist längst nicht mehr Herz-Jesu gewidmet, sondern Herz-Fun! Und wir sind die Boomer, die am Lebensende feststellen müssen, dass es einfach zu viele Menschen am Kontinent gibt.

– Die Touristen fahren übrigens mit der gleich miesen Fresse wieder nach Hause, mit der sie gekommen sind. Ein Zeichen, dass die Vergnügungsfläche Tirol nicht wirklich wirkt.

Die Einheimischen unterhalten sich von ihren Kellern heraus über Sozialmedia mit den Nachbarn. Erst bei Wochenbeginn werden sie wieder offline und haptisch miteinander ins Gespräch kommen.

– Das hat hat uns beim EU-Beitritt damals niemand gesagt, dass wir eines Tages wegen Wirtschaftsglück im eigenen Keller sitzen werden, ohne Aussicht auf Veränderung.

– Ja, die warnenden Stimmen damals im vorigen Jahrhundert wurden als Nationalisten und „Ewiggestrige“ bezeichnet.

Und heute sind sie vielleicht die einzigen, die uns aus den abgeschiedenen Häusern und blockierten Dörfern heraushelfen.

Draußen wird am Abend für ein paar Stunden der Verkehr angehalten, damit sich die Kids zum Martini-Umzug treffen können. Sie genießen es, wenn sie die Vergnügungsfläche für sich selbst und ihre Laternen benützen können. Sie kennen Tirol sonst nur am Display.

Sie haben sich alle ein Jahr lang über TikTok verbündet und einen Martini-Schwur hochgeladen: Herz-Fun, dir ewig Treue!

STICHPUNKT 24|87, geschrieben am 04.11.2024

Geboren 1953. Ist seit Gerichtsverfahren 1987 gerichtlich anerkannter Schriftsteller, bis 2018 als Bibliothekar an der ULB Tirol. Als Konzept-Schriftsteller hält er sich an die These: Ein guter Autor kennt jeden Leser persönlich.

Etwa 50 Bücher, u.a.:
* BIP | Buch in Pension | Fünf Bände (2020-2024)
* Anmache. Abmache. Geschehnisse aus dem Öffi-Milieu. (2023)
* Austrian Beat 2. [Hg. Schneitter, Schönauer, Pointl] (2023)
* Verhunzungen und Warnungen. | Geschichten, entblätterte Geschichten, verwurstete Geschichten. (2022)
* Outlet | Shortstorys zum Überleben (2021)
* Antriebsloser Frachter vor Norwegen | Austrian Beat (2021)
* Tagebuch eines Bibliothekars | Sechs Bände (2016-2019)

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