Der Komponist des Lebens - eine Weihnachtsgeschichte (c) OpenAI, Stefanie Kozubek

„Der Komponist des Lebens“ – eine Weihnachtsgeschichte

Eine berührende Erzählung über Liebe, Einsamkeit und das Strahlen in uns allen.

46 Minuten Lesedauer
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Die Geschichte, die ich euch erzähle, handelt von Nicola. Einem Wunderkind. Wenn es um Musik ging.

Bereits im Alter von drei Jahren spielte Nicola besser Geige und Klavier als viele Erwachsene. An seinem vierten Geburtstag komponierte er für seine Mutter einen Geburtstagswalzer. Nicola war ein glückliches Kind, das seinen Eltern viel Freude bereitete und sie mit seiner Gabe sehr stolz machte.

Zu der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, ist Nicola längst kein Kind mehr. Sondern ein gefeierter, 24-jähriger Komponist, Dirigent und Virtuose. Die Ereignisse, von denen ich euch berichten werde, trugen sich innerhalb weniger Wochen, genauer gesagt im Advent, den Tagen vor Weihnachten zu.

Nicola wusste nicht, wie ihm geschah.

Bereits im Herbst hatte er mit einer, ihm unerklärlichen, Schwäche zu kämpfen. Bei den Proben verließen ihn immer wieder seine Kräfte. Er legte viele Pausen ein. Die Müdigkeit überfiel ihn aber nicht nur im Konzertsaal, sondern auch zuhause beim Komponieren.

Zuerst dachte er sich nichts dabei. Doch als die Intervalle immer kürzer wurden und er sich nicht einmal mehr für zehn Minuten konzentrieren konnte, machte er sich allmählich Sorgen. Das Ganze wurde schlimmer. Als der Winter Einzug hielt, wurde Nicola schwer krank. Ganze zwei Wochen musste er mit hohem Fieber das Bett hüten und zwei wichtige Konzerte absagen.

Richtig besorgniserregend wurde es am ersten Adventsonntag. Für einen außergewöhnlichen Musiker ist ein ausgezeichnetes Gehör das Allerwichtigste. Und genau das verließ ihn immer wieder. Zuerst nur für ein paar Augenblicke. Dann immer länger. Nicola dachte erst, ihm wären die Ohren zugefallen. Doch alles Gähnen und Schlucken dieser Welt zeigte keine Wirkung. Es wurde nicht besser, sondern schlimmer.

Nicola hatte in seiner Kindheit und Jugend aufgrund seiner Begabung viel Aufmerksamkeit bekommen. Aufmerksamkeit, die ihm bald zu viel wurde. Immer öfter zog er sich zurück, sperrte sich stundenlang im Zimmer ein, spielte am Instrument oder komponierte.

Richtige Freundschaften kannte er nicht. Wenn, dann waren es reine Zweckgemeinschaften. Musikerkollegen, die gemeinsam übten. Mitstudierende, die gemeinsam lernten. Doch richtig an sich heranlassen, konnte Nicola niemanden mehr, seit die Beziehung zu seinen Eltern in die Brüche gegangen war.

Auch wenn seine Eltern ihn über alles liebten, nahezu verehrten, hatten sie keinen Blick für seine wahren Bedürfnisse. Natürlich war die Musik seine große Leidenschaft. Doch ein Kind brauchte mehr als das.

In einem Leben, das nur aus Schule, Musikunterricht, Komponieren und Konzerten bestand, war nicht viel Zeit für Zuneigung. So gerne hätte Nicola mit seinen Eltern gesprochen. Doch er hatte nie den Mut dazu, wollte seine Eltern, die bei Auftritten erwartungsvoll in der ersten Reihe saßen, nicht enttäuschen.

Bis zu dem einen Tag an dem ihm alles zu viel wurde. Er war gerade 18 Jahre alt geworden, hatte die Schule abgeschlossen und stand vor einer Anstellung als Sologeiger bei einem renommierten Orchester. Nicola war an diesem Tag gesundheitlich angeschlagen, weshalb er das Vorspiel unverrichteter Dinge abbrach.

Die Enttäuschung seiner Eltern über diese Entscheidung traf ihn wie ein Dolchstoß. Der Schutzmantel, den er sich im Laufe seiner Kindheit aufgebaut hatte, brach zusammen. Zu viele Jahre hatte er alles hinuntergeschluckt, Erwartungen erfüllt. Heute war damit endgültig Schluss.

Nicola wollte immer nur Kind sein. Nie Wunderkind. Doch Erwartungen formten sein Leben. Jetzt ließ er seinen Gefühlen freien Lauf und endete mit den Worten: „Ich kann nicht mehr. Ich ziehe aus.“

An diesem Tag war etwas in die Brüche gegangen. Aus dem unschuldigen, braven Wunderkind wurde ein verunsicherter, junger Erwachsener, der lernen musste auf eigenen Beinen zu stehen. Für sich selbst Entscheidungen zu treffen. Die erste führte Nicola in eine große Stadt.

Schnell feierte das einstige Wunderkind musikalische Erfolge. Ganz allein. Ohne die Unterstützung seiner Eltern.

Doch trotz aller Erfolge war Nicola einsam.

War er nicht im Konzertsaal, saß er allein an einem kleinen Tisch im Kaffeehaus und machte Notizen auf seinen Notenblättern. Oder verbrachte den ganzen Tag zuhause, in seiner kleinen Wohnung im Zentrum der Stadt. Sitzend und grübelnd am Klavier.

Ein einziges Mal ergab sich die Chance auf eine Freundschaft. Eine Studienkollegin sprach Nicola nach der ersten Unterrichtsstunde an und lud ihn auf einen Kaffee ein. Das Gespräch war stockend, holprig, schlicht unangenehm. Die beiden redeten nie wieder miteinander.

Das Leben von Nicola war geprägt von Gegensätzen. Auf der einen Seite der gefeierte Jungstar – auf der anderen der einsame junge Mann, der von sich selbst nicht mehr wusste als, dass er eine Gabe für Musik und ein absolutes Gehör hatte.

Bis zu diesem verhängnisvollen Advent von dem ich euch heute erzähle.

Zuerst hatte sich die Außenwelt zurückgezogen, hinter einen Vorhang aus Watte. Sie war dumpf wahrnehmbar, schien jedoch weit entfernt. Sein Hören wurde immer schwächer.

Am dritten Tag bekam Nicola panische Angst. Eine innere Unruhe erfasste ihn. An arbeiten war nicht zu denken. Er lief in der Wohnung auf und ab, begann zu schwitzen, trank einen Schluck Wasser und atmete tief ein und aus, in der Hoffnung, dass seine Ohren wieder aufgehen mögen. Nichts half. Die Welt blieb in weiter Ferne.

In seiner Verzweiflung überlegte er, wen er um Hilfe bitten konnte. Doch da war niemand. Außer seinen Eltern. Fünf Jahre hatte er sich nicht mehr bei ihnen gemeldet. Arztbesuche hatte er in schlechter Erinnerung. In seiner Hoffnungslosigkeit beschloss Nicola die Apotheke am Stadtplatz aufzusuchen.

Dick eingepackt stapfte er die Straße entlang. Die Stadt war festlich geschmückt und voller Erwartung auf das Weihnachtsfest. Es schneite. Der Wind trieb die Schneeflocken unangenehm in Nicolas Gesicht. Instinktiv griff er sich mit den Händen an beide Ohren, um sie zu schützen.

Ein kleiner Bub und dessen Mutter kreuzten seinen Weg. Der Junge trug ein selbst gebasteltes Lebkuchenhaus und strahlte über beide Ohren. Seine Mutter schaute ihm stolz dabei zu. Wie gern wäre Nicola dieser Junge gewesen.

Das einzig Irritierende an der Szene war der grüne Schein, der den Jungen umgab. Nicola konnte ihn deutlich wahrnehmen. Im ersten Moment verstand er nicht und kniff die Augen zusammen, wie man es macht, wenn man nicht glauben kann, was man sieht. Der grüne Schein war verschwunden. Der kleine Junge und dessen Mutter um die Ecke gebogen.

Genau in diesem Augenblick musste dem Kind etwas aus der Hand gefallen sein. Nicola dachte zuerst es sei ein Stück vom Lebkuchenhaus. Als er sah, dass es ein Zettel war, drehte er rasch um. Der Wind wehte ihm das Stück Papier entgegen. Er fing es auf und lief den beiden nach. Als er um die Ecke Nicola sah, waren beide verwunden. Er schüttelte den Kopf, schob den Zettel in seine Manteltasche und steuerte so schnell wie möglich auf die Apotheke zu.

Diese befand sich in einem wunderschönen alten Stadthaus. Beim Öffnen der schweren und aufwendig verzierten Holztüre kam ihm ein Schwall warme Luft entgegen. Ein Geruch von Eukalyptus und Holz durchströmte den gesamten Innenraum. Außer Nicola war nur eine weitere Kundin zu sehen. Eine ältere Dame, die bereits mehrere Medikamente vor sich auf dem Tresen liegen hatte.

Nicola war nervös und trat von einem Bein aufs andere. Er wurde zunehmend unruhiger, als den Apotheker plötzlich ein gelber Schein umgab. Ähnlich wie vorhin bei dem kleinen Jungen. Nur viel deutlicher, dichter und heller.

Als der Mann sich über die Theke beugte und der älteren Dame die Einnahme der Medikamente erklärte, breitete sich das Licht aus und floss über die Hand des Apothekers auf die Frau zu. Ganz so, als wollte es den Besitzer wechseln.

Für Nicola hatten Töne Farben. Je nach Lautstärke waren diese intensiver oder matter. Schnelle Noten schickten Blitze aus. Langsame Töne blieben länger. Doch ein Mensch, der leuchtete. Das hatte Nicola in seinem Leben noch nicht gesehen.

Mittlerweile hatte das gelbe Licht die Frau erreicht und verfärbte sich auf ihrer Brust zu einem wunderschönen, pulsierenden Rubinrot.

Das Gespräch war beendet. Die Frau bezahlte, bedankte sich und verließ die Apotheke. Mit einem rubinroten Leuchten um die Brust öffnete die ältere Dame die Türe und trat ins Freie. Nicola war an der Reihe.

Im ersten Moment zeigte Nicola keine Regung. Er starrte den Apotheker an, der noch immer in einer Wolke aus gelbem Licht stand. Er strahlte Freude aus. Nicola war dermaßen in Gedanken vertieft, dass er den eigentlichen Grund seines Besuchs fast vergessen hätte. Erst als der Apotheker zu winken begann, erwachte er aus dem Tagtraum. Er konnte sehen, dass der freundliche Mann etwas sagte, doch er verstand kein Wort.

„Etwas gegen plötzlichen Hörverlust. Bitte!“

Nicola musste den Wunsch zu laut ausgesprochen haben, denn der Apotheker zuckte zusammen. Für eine Millisekunde war auch das gelbe Licht verschwunden. Es kehrte jedoch sofort wieder zurück.

Der Mann schien Nicolas Problem verstanden zu haben und Griff nach Zettel und Papier.

„Seit wann? Beide Ohren?“ stand auf dem Zettel, den der Apotheker Nicola zeigte.

„Drei Tage. Ja, beide“, erwiderte Nicola wieder deutlich zu laut und zuckte mit den Achseln.

Der Apotheker schrieb eine weitere Frage auf.

„Fieber?“

„Nein!“, antwortete Nicola.

Der Apotheker nickte, drehte sich um und öffnete eine der vielen Schubladen des großen Apothekerschranks, der die gesamte Wand bedeckte und aus wunderschönem, dunklem Holz gezimmert war. Der gelbe Schein wurde stärker.

„Dampfbad und Öl. Zwei Mal täglich. Beide Ohren.“ Stand auf dem nächsten Zettel, den der Apotheker auf den Tresen legte.

Nicola wollte gerade nach den Verpackungen greifen, als der Apotheker seine Hand berührte. Just in dem Moment begann sich das gelbe Licht abermals auszubreiten und floss über den Arm des Mannes auf dessen Hand und war gerade im Begriff auf Nicola überzugehen.

Kurz stieg in ihm der Impuls auf, die Hand zurückzuziehen. Doch die Neugier siegte. Das gelbe Licht strömte über seinen Handrücken in Richtung Ellbogen. Ein warmes Gefühl breitete sich aus.

Nicola konnte sich all das nicht erklären. Weder das Leuchten noch die innerliche Regung. Nicola fühlte sich mit dem Apotheker verbunden. Nahm den Menschen bewusst wahr. Als würde er den Mann schon lange kennen. All seine Probleme, Charaktereigenschaften, Sorgen, Wünsche und Ängste. Als würde er in dessen Innerstes blicken. Nichts verborgen bleiben. Das Licht schien den letzten Winkel seines Gegenübers auszuleuchten.

Nicola fühlte Dankbarkeit, die sich in seiner Brust sammelte und auszubreiten begann.

Beim Blick nach unten erschrak er und zog die Hand schlagartig zurück.

Direkt über seinem Herzen, war ein kleines blaues Licht aufgetaucht. Nicht größer als eine Murmel. Die Kugel zuckte, flimmerte, pulsierte. In einem tiefen, strahlenden Blau.

Das Gefühl, das er dabei empfand, war mit Worten kaum zu beschreiben. Eine Mischung aus Ungläubigkeit, Furcht, Neugier. Und Freude. Auch wenn die Überraschung bei weitem überwog und Nicola sich nicht im Ansatz erklären konnte, woher all diese Farben stammten und was sie zu bedeuten hatten, freute er sich. Unfähig zu beurteilen, wieso.

Der letzte Zettel Papier, den der Apotheker ihm hinschob, holte ihn in die Realität zurück.

„Gehen Sie unbedingt zum Arzt. Ursache wichtig“, stand darauf.

Nicola lächelte. Nickte. Bezahlte. Sagte viel zu laut „Vielen Dank … für Alles.“ Und trat hinaus auf die Straße.

Das Schneetreiben war stärker geworden. Der Wind hatte nachgelassen. Nicola streckte das Gesicht in Richtung Himmel, schloss die Augen und atmete tief ein. Er wusste nicht was mit ihm geschehen war, aber das spielte keine Rolle. Noch nie in seinem Leben war er so glücklich gewesen.

Trotz seiner schmerzenden Ohren wollte Nicola nicht nach Hause, sondern unter Leute. So schlenderte er vom Hauptplatz in Richtung Dom. Dort befanden sich mit Abstand die meisten Cafés und Gasthäuser. Der ideale Ort, um seinen Hörverlust zu vergessen und weiter glücklich zu sein. Ausruhen konnte er sich später.

Nicolas Wahl fiel auf das Gasthaus „Zum goldenen Eber“. Das älteste Wirtshaus der Stadt war bis auf den letzten Platz gefüllt. Nicola setzte sich an die Bar und bestellte einen heißen Ingwertee. Der freundlichen Bedienung, einer lächelnden Frau in Nicolas Alter, dürfte sein Ohrenleiden nicht aufgefallen sein. In vollen Gasthäusern schrie jeder wie wild. Vor allem, wenn so wie hier, Livemusik gespielt wurde.

Nicola blickte durch den Gastraum, der um die fünfzig Personen beherbergte. Er fragte sich, ob die geheimnisvollen Lichter auch hier auftauchen würden. Auf den ersten Blick war keines zu sehen. Nur auffällig viele Männer, die sich gegenseitig zuprosteten, wild gestikulierten und ein Bier nach dem anderen bestellten.

Erst als Nicola einen Schluck seines heißen Ingwertees nahm und für einen Moment die Augen schloss und wieder öffnete, sah er hier und da einen kaum wahrnehmbaren Schein. 

Nicola begann sich allmählich zu fragen, was hinter alldem stecken könnte, als die Türe zu einem weiteren Gastraum aufging. Er hielt sich reflexartig die Hand vor die Augen, so hell war das purpurfarbene Licht, das durch die Türe und direkt in sein Gesicht schien. Als die Schwingtüre wieder zufiel, war es schlagartig verschwunden.

Neugierig geworden, stand Nicola von seinem Barhocker auf und ging in den hinteren Raum. Dort befanden sich deutlich weniger Menschen.

In einem Eck, am hinteren Ende, saßen eine ältere Frau und ein ebenso greiser Mann. Der stark leuchtende, purpurfarbene Glanz ging von den beiden aus. Nicola konnte nicht anders und starrte in ihre Richtung. Zu seiner Verwunderung schauten sie ihm direkt in die Augen. Und lächelten.

Überrascht drehte Nicola sich um und blickte über seine rechte Schulter. Niemand war zu sehen. Die beiden älteren Personen schienen tatsächlich ihn anzulächeln. Ihr Blick traf sich ein weiteres Mal. Intensiv, aber unaufdringlich und freundlich. Nicola wurde neugierig.

Und da tat er etwas, was ihm in seinem bisherigen Leben im Traum nicht eingefallen wäre. Er ging selbstbewusst quer durch die Stube, an einer gestresst wirkenden Bedienung vorbei und stand schließlich direkt vor dem Tisch der beiden Alten. Die Frau machte eine eindeutige Geste und bat ihn sich zu setzen. Nicola folgte der Anweisung. Der purpurfarbene Schein verlieh den beiden Anmut und eine Spur von Nostalgie.

So verbrachten die drei mehrere Minuten. Sitzend. Schauend. Lächelnd. Niemand sprach ein Wort. Nicola fühlte tiefe Zufriedenheit und hatte kein Bedürfnis etwas zu sagen oder zu fragen.

Während dieser Zeit beobachtete er die beiden aufmerksam. Obwohl ihre Gesichter die Lebenszeit nicht verbergen konnten und die eine oder andere Falte zu sehen war, wirkten die beiden deutlich jünger als andere Menschen in ihrem Alter. Nicola schätzte sie auf 80.

Die Frau hatte lange graue Haare, die sie mit einem Knoten hochgebunden hatte. Sie trug eine schlichte weiße Bluse, eine dunkelbraune Weste und einen ebenfalls dunkelbraunen Rock. Auf ihrer Weste entdeckte Nicola eine Brosche. Sie war nicht viel größer als drei, vier Zentimeter, aber umso eindrucksvoller.

Der Skarabäus bestand aus goldenem Metall und dunkelblauen Steinen. Die Fingerfertigkeit des Schmieds, der dieses Schmuckstück geschaffen hatte, war erstaunlich. Die Brosche musste sehr alt sein. Eine solche Handwerkskunst existierte heutzutage nicht mehr. Da war Nicola sicher.

Beim Blick auf den älteren Mann konnte Nicola erst nichts Besonderes entdecken. Graue Haare, etwas verwuschelt. Grauer Bart, etwas zerzaust. Ein weißes Leinenhemd. Ein dunkelblaues Jackett mit braunen Flicken an den Ellbogen. Eine schwarze Brille mit dickem Rand.

Der Mann erinnerte Nicola an einen Geschichtsprofessor. Erst beim Blick auf die Garderobe sah Nicola etwas, das aus dem Rahmen fiel.

Unter dem braunen Wollmantel lugte ein Gehstock hervor, der an die Wand gelehnt war. Dass ein älterer Mann einen Gehstock nutzte, war nicht weiter außergewöhnlich. Es war der Griff, der Nicolas Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein goldener Tierkopf. Etwas Katzenartiges? Oder doch der Kopf eines Hundes? Ein Schakal? Nicola war sich nicht sicher. Die roten Steine, die dem Schakal-Kopf als Augen dienten, schienen Nicola zu fixieren. Schnell wendete er seinen Blick ab.

Wer waren die beiden? Waren sie ein Paar? Wieso umgab sie der purpurfarbene Schein? Wieso lächelten die beiden, als wüssten sie genau, was in Nicola vorging? Als hätten sie Antworten darauf. Nicolas Gedanken sprangen wie wild umher. Eine Frage ergab die nächste.

Der Moment des Grübelns wurde von der jungen Kellnerin unterbrochen, die Nicola bereits vorher an der Bar kennengelernt hatte. Sie legte sanft ihre Hand auf seine Schulter und stellte die Teetasse, die Nicola am Tresen vergessen hatte, auf den Tisch.

Die Hand der jungen Frau verweilte auf seiner Schulter. Schon sehr lange hatte ihn niemand mehr so zärtlich berührt. Nicola war es unangenehm, gleichzeitig genoss der den Moment. Über der linken Brust der jungen Frau begann ein kleines rotes Licht zu leuchten.

Auch Nicolas blaue Kugel, direkt über seinem Herzen, pulsierte und wuchs auf die doppelte Größe heran. „Clara. Sie heißt Clara“, schoss es ihm durch den Kopf. Er war sich sicher, obwohl er die junge Frau vorher noch nie gesehen hatte. Ein Blick hatte genügt. Nicola verspürte vertraute Wärme und ein Gefühl von Sehnsucht.  

Als die Kellnerin zum nächsten Tisch weiterging, machten sich auch die beiden Alten auf den Weg.

Zuerst half der ältere Mann der Frau in ihren schwarzen Mantel. Danach umgekehrt. Die beiden gingen äußerst vertraut und liebevoll miteinander um. Überhaupt schienen sie durch ein starkes Band verbunden zu sein. Nicola wusste nicht, woran er das festmachte. Aber was er hier sah, war bedingungslose, jahrelange Liebe.

Während die beiden einander halfen, verlor der purpurfarbene Glanz nichts von seiner Kraft. Beim Verabschieden lächelten beide und senkten ihren Kopf.

Die Frau reichte Nicola einen Zettel. Er schaute auf ihre Hände. Ihre Finger waren die einer älteren Frau, aber samtig weich. Im Anschluss verließen die beiden Alten das Gasthaus.

Nicola blieb sitzen und starrte auf das weiße Stück Papier. Erst die Lichter. Dann dieses unbeschreibliche Gefühl von Freude und tiefer Zufriedenheit. Jetzt dieses mysteriöse Paar und der Zettel. All das ergab für Nicola keinen Sinn.

Er wollte in Ruhe nachdenken, bestellte einen weiteren Tee und öffnete das Stück Papier. Es fühlte sich komisch an. Nicht wie normales Papier. Als hätte der Zettel ein Eigenleben. Nicola war sich zudem sicher, dass das weiße Viereck ein leichter purpurfarbener Schimmer umgab. Er begann zu lesen.

Wer am Schutzweg weilt,

wird nie die Blüten an den Schenkeln spüren.

Denn Blumen blühen nicht auf Trampelpfaden.

Nur jenseits jeder Sicherheit,

warten Meere voller Farbenpracht.

Du bist auf dem richtigen Weg, lieber Nicola.

Zum Glück saß Nicola auf einem massiven Holzstuhl, denn die Nachricht zog ihm den Boden unter den Füßen weg. Für einen kurzen Augenblick hatte er das Gefühl ohnmächtig zu werden. Als würde sich unter ihm ein Loch öffnen und ihn wie in einem Strudel aus Emotionen, Gedanken und Gefühlen nach unten reißen.

Was er hier las, konnte unmöglich stimmen. Die Botschaft war mehr als nur ein paar schlichte, schöne Worte. Sie waren der Schlüssel zu einem Raum, den Nicola längst geschlossen und vergessen hatte. Ein paar kleine Worte hatten ihn entdeckt und wieder geöffnet. All das Weggesperrte drängte an die Oberfläche.

Nicola sprang auf, pfefferte einen Geldschein auf den Tisch und stürmte nach draußen. Ohne einen Blick zurück.

Endlich frische Luft. Kurz durchatmen. Viel Zeit hatte er dafür nicht. Er wollte das alte Paar finden. Und zwar schnell.

Vor dem Gasthaus „Zum Goldenen Eber“ war niemand zu sehen. Eine Spur führte direkt vom Haus weg. Allzu weit konnten die beiden noch nicht gekommen sein. Nicola entschied sich der Spur zu folgen und quer über den Platz zum Dom zu laufen. Direkt dahinter befanden sich mehrere Häuser, die seit vielen Jahren von älteren Menschen bewohnt wurden. Vielleicht hatte er Glück.

Dass seine Ohren schmerzten und sein Hörsinn mittlerweile komplett verloren war, nahm Nicola nicht wahr. Viel zu sehr war er mit der Suche beschäftigt. Er atmete hektisch. Mittlerweile hatte es zu schneien aufgehört. Die Stadt lag unter einer weißen Schicht begraben.

Nicola lief kreuz und quer durch die engen Gassen. In den meisten Wohnungen brannte Licht. Von den beiden Alten fehlte jede Spur. Obwohl keine Flocken mehr vom Himmel fielen, konnte Nicola keine Fußspuren im Schnee entdecken. Hatten die beiden sich in Luft aufgelöst?

Nach zwanzig Minuten gab Nicola seine Suche auf. Die Kälte war an seinen Beinen hochgekrochen und hatte seinen ganzen Körper erfasst. Er spürte ein pulsierendes Stechen in den Ohren. Eine unangenehme Erinnerung an den Hörverlust. Die gute Stimmung war verflogen.

Nicola beschloss nach Hause zu gehen und sich aufzuwärmen, als er rechts von sich, im Augenwinkel, eine Bewegung wahrnahm.

Neugierig geworden, drehte er sich zu der dunklen Gasse und ging ein paar Schritte hinein. Seine Augen mussten sich erst an das wenige Licht gewöhnen. Nach einigen Metern entdeckte er eine Person, die auf dem Boden kauerte und ihm den Rücken zuwandte. Ein dunkler Schatten umhüllte sie.

Langsam und vorsichtig setzte Nicola ein Bein vor das andere. Dabei fixierte er die Person, die in einen zerschlissenen, schwarzen Mantel gehüllt war. Die schwarze Wolke, die die Person umgab, war dichter geworden. Nicola war so konzentriert, dass er die Mülltonne, die im Weg stand, übersah und sich das rechte Knie anschlug.

Er versuchte den Schmerzensschrei zurückzuhalten. Vergebens. Die Person am Boden erschrak, sprang reflexartig auf und drehte sich um. Zwei schwarze Katzen machten einen Satz nach hinten und flüchteten ins Dunkel. Nicola und die Person standen sich mit wenigen Metern Abstand gegenüber.

Nicola blickte in leere Augen. Ganz so, als hätte jemand jegliche Hoffnung, jeglichen Funken Leben aus ihnen herausgesaugt. Dicke, dunkle Tränensäcke und buschige Augenbrauen taten ihr Übriges. Das Erscheinungsbild war jenes eines obdachlosen Menschen, der tagtäglich einem Überlebenskampf ausgesetzt war.

Der Blickkontakt dauert mehrere Sekunden. Im Augenwinkel erkannte Nicola, dass der Mann eine Dose in seiner linken Hand hielt. Obwohl er selbst offenbar auf der Straße lebte und sicher nicht viel besaß, teilte er Nahrung mit Streunern, die es ebenfalls schwer hatten.

Wie konnte man in einer solchen Extremsituation, die anderen nicht vergessen? In Nicolas Brust entstanden Mitgefühl und Anerkennung. In den letzten Jahren war er selbst oft egoistisch gewesen. Die Geste des Mannes imponierte ihm.

Der Obdachlose begann zu lächeln und wirkte schlagartig jünger. Der schwarze Nebel, der ihn umgab, schien sich zurückzuziehen. Er machte ein paar Schritte nach vorne, blieb unmittelbar vor Nicola stehen, griff in seine Tasche, holte einen Zettel heraus und streckte diesen Nicola mit beiden Händen entgegen.

„Schon wieder?“, dachte Nicola und griff zu.

Der Mann nickte sanft, drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit. Nicola schaute ihm verblüfft nach und konnte auf dem schneebedeckten Boden keine Fußspuren erkennen. Nur ein orangefarbener Schimmer lag in der Luft. Er faltete den Zettel auseinander und las.

Schmerz kommt, Schmerz vergeht.

Alles hat seine Zeit.

Glück kommt, Glück geht.

Alles hat seine Zeit.

Dein Leben ist jetzt, lieber Nicola.

Alles hat seine Zeit.

Der blaue Punkt begann wieder heftig zu pulsieren und sich weiter auszubreiten. Mittlerweile füllte er fast den gesamten Oberkörper aus.

Doch im Moment beschäftigte Nicola etwas anderes. Was wollte der obdachlose Mann ihm mit dieser Botschaft sagen? Was konnte ein einzelner Mensch schon am Schicksal ändern?

Nicolas Finger waren steif vor Kälte. Dennoch gelang es ihm den Zettel zu falten und in die Manteltasche zu schieben. Da fiel ihm auf, dass er einen weiteren eingesteckt hatte.

Nicht nur jenen aus dem Gasthaus. Das Stück Papier, das er jetzt in Händen hielt, wollte er dem kleinen Jungen von heute Mittag zurückbringen. Seitdem war viel Zeit vergangen. Damals hatte er zum ersten Mal einen Schein bei einem Menschen wahrgenommen. Nie im Leben hätte er gedacht, dass auf dem Zettel etwas Relevantes stehen könnte.

Die krakelige Schrift, die darauf zu sehen war, war eindeutig die eines Kindes.

Die grausamste Krankheit ist das Altern.

Erwachsenwerden ihr Symptom.

Einsamkeit und Mühsal begleiten uns auf unserem Weg.

Unschuldig blicken nur die Augen eines Kindes.

Der Mensch wird blind. Von Jahr zu Jahr.

Schau hin, Nicola. Schau hin.

Nicola spürte, dass die Worte ihn tief berührten. Der Text sah aus, wie von einem Kind geschrieben. Doch sie klangen nach einem sehr weisen Menschen.

Nicola hatte in den letzten Jahren alles versucht, um einer der besten Musiker und Komponisten der Welt zu werden. Koste es, was es wolle. Hatte Zeit und Beziehungen dafür geopfert.

Einsamkeit und Mühsal stand auf dem Stück Papier. Drei Wörter, die Nicolas Leben treffend beschrieben. Er wurde nachdenklich. War es all das Wert? War es sein Traum oder wollte er lediglich die Erwartungen seiner Eltern erfüllen? Die ihm, ohne Absicht oder es zu wollen, ihre eigene Wunschvorstellung aufgezwängt hatten?

Nicola begann zu zweifeln. Nur eines war sicher. Es war höchste Zeit nach Hause zu gehen.

Eine Stunde später fiel er erschöpft in einen traumlosen Schlaf.

In den darauffolgenden Tagen blieb Nicola hauptsächlich in seiner Wohnung. Er verließ sie nur, um das Allernotwendigste zu besorgen. Auch wenn sich das Hörproblem kaum besserte, entschied er sich gegen einen Arztbesuch. Das Dampfbad und das Öl, das er vom Apotheker erhalten hatte, linderten die Schmerzen. Das reichte ihm.

Der ereignisreiche Tag mit all den besonderen Menschen und mysteriösen Botschaften hatte Nicola viel Kraft gekostet. So zog er es vor daheim im Bett zu bleiben und sich auszukurieren.

Auch wenn die Worte ihn immer wieder Grübeln ließen, beschloss er der Lösung des Rätsels erst nachzugehen, wenn er sich wieder fitter fühlte. Auch an Musik war in diesem Zustand nicht zu denken.

Kurz vor Weihnachten schob jemand einen Zettel unter der Eingangstüre hindurch. Im ersten Moment erschrak Nicola. Doch in den letzten Wochen hatte er sich dermaßen an geheimnisvolle Notizen gewöhnt, dass er müde lächelte und den Brief aufhob. Die Nachricht ließ sein Lächeln rasch vergehen.

Lieber Nicola!

Erik ist vorgestern gestorben.
Seine Beisetzung ist am 23. Dezember um 14 Uhr.
Zentralfriedhof.
Er hätte sich gefreut, wenn du kommen würdest.

Alles Liebe,
Alma.

Nicola verstand kein Wort. Wieso wurde er zum Begräbnis eines Menschen eingeladen, den er gar nicht kannte? Nicola fühlte sich zu müde und erschöpft, um länger darüber nachzudenken. Er legte den Brief auf die braune Kommode und ging zurück ins Bett.

Als Nicola wieder aufwachte, war es draußen bereits dunkel. Schlaftrunken öffnete er die Augen und blinzelte. Durch die leicht verklebten Wimpern sah er ein purpurfarbenes Licht. Es schien von der Kommode zu kommen. Konnte das sein? Er stolperte aus dem Bett. Das purpurfarbene Leuchten ging eindeutig von dem Brief aus. Nicola las ihn erneut und dachte an den mysteriösen Tag zurück.

„Wer am Schutzweg weilt, wird nie die Blüten an den Schenkeln spüren …“

„Schmerz kommt, Schmerz vergeht. Alles hat seine Zeit. Dein Leben ist jetzt.“

„Die grausamste Krankheit ist das Altern. Schau hin, Nicola. Schau hin.“

Diese Sätze hatten sich in seinem Kopf festgesetzt. Und plötzlich ergaben sie Sinn.

Nur in Unterhosen und mit einem weißen T-Shirt bekleidet, stand er in einer kleinen Wohnung, in einer Stadt, in der er weder Freunde noch Familie um sich wusste, die er als Heimat wählte, weil andere es ihm geraten hatten und hielt eine Einladung in Händen, von Menschen, die er nicht kannte.

Der alte Nicola, der ein absolutes Gehör besaß und den sie Wunderkind nannten, hätte den Zettel in den Papierkorb geworfen und wäre in Arbeit versunken. Das Schicksal anderer Menschen wäre ihm egal gewesen.

In den letzten Tagen hatte Nicola sich jedoch verändert. Nicht nur körperlich. So fasste er den Mut und beschloss die Einladung anzunehmen.

In vier Tagen, kurz vor Weihnachten, würde er an einem offenen Grab stehen und um einen unbekannten Menschen trauern. Das Papier in seiner Hand begann hell zu strahlen.

Schmerz kommt, Schmerz vergeht. Alles hat seine Zeit.

Die grausamste Krankheit ist das Altern.

Wer am Schutzweg weilt, wird nie die Blüten an den Schenkeln spüren.

Allerhöchste Zeit.

Obwohl seine Ohrenschmerzen nicht besser wurden, war Nicola am 23. Dezember fest entschlossen. Kurz nach Mittag zog er sein schönstes weißes Hemd, seinen elegantesten schwarzen Anzug, den dicken, winterlichen Mantel und seine besten Schuhe an. Er stieg in die Straßenbahn und fuhr zum Zentralfriedhof.

Auf dem riesigen Gelände musste er einen Moment lang suchen, wurde schließlich aber fündig. Die kleine Trauergemeinde stand rund um ein frisches Grab, das sich direkt neben einer Weide befand. Der Pfarrer hatte bereits mit den Ritualen begonnen. Nicola hielt etwas Abstand und blieb einige Grabreihen entfernt stehen.

Er schloss die Augen, spürte und dachte kurz über den Tod nach. An das große Ende. Das Finale. Danach ging nichts mehr. Ein Leben war vorbei. Unveränderbar.

Da musste er unweigerlich an seinen eigenen Tod denken. Und er kam zum Schluss. Würden seine Eltern vor ihm die Welt verlassen, würde niemand um ihn trauern.

Die lokalen Zeitungen würden einen Nachruf drucken. Ein paar Zuschauer schockiert die Nachricht lesen.

Aber Menschen, denen er wirklich wichtig war? Die gab es nicht. Niemand würde um ihn weinen.

Als das Begräbnis zu Ende war und Nicola die Augen wieder öffnete, sah er vor sich ein Meer aus Farben. Grün. Gelb. Rot. Orange. Purpur.

Und da erkannte er, dass die kleine Trauergemeinde aus Menschen bestand, die er tatsächlich kannte. Die Bedienung aus dem „Goldenen Eber“, die mit ihrem kleinen Sohn gekommen war. Der Apotheker, der so vielen Menschen Linderung brachte. Der obdachlose Mann, der sein Essen mit Tieren teilte. Und die alte Dame, die um ihren Mann trauerte.

Schlagartig wurde Nicola bewusst, wer hier verstorben war. Er senkte den Blick und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.

Als er aufblickte, stand die alte Frau direkt vor ihm und lächelte ihn freundlich an. Sie legte ihm die Hand auf den Oberarm und reichte ihm einen Stock. Den Stock mit dem goldenen Tierkopf. Wie von Zauberhand verschwanden seine Ohrenschmerzen und er konnte wieder hören. Sie sagte zu ihm.

„Er wollte, dass du ihn bekommst. Weine nicht um ihn. Wir hatten ein schönes Leben. Das schönste, das wir uns vorstellen konnten. Deine Musik hat ihm unheimlich viel bedeutet. Uns allen. Oft muss man erst etwas verlieren, um zu erkennen was wirklich wichtig ist. Man lebt nur einmal, lieber Nicola. Vergiss das nicht.“

Die alte Frau nahm ihn in den Arm. Und da geschah es.

Zunächst war es nur ein zarter, blauer Schimmer. Wie ein Hauch aus längst vergangener Zeit. Wie ein schüchterner Blick durchs Fenster. Das Licht schien Kraft zu sammeln. Erst vorsichtig, zaghaft. Doch mit jeder Sekunde, die verrann, mit jeder Spur von Wärme, die von der Umarmung ausging, wuchs das Leuchten. Saphirblau.

Nicola schloss die Augen und begann zu lächeln.

Es war, als ob in ihm neuer Lebensmut wuchs. Zuversicht. Eine Kraft, die lange verborgen geblieben war.

Und dann begann er zu strahlen. Heller, tiefer, voller. Wie er noch nie zuvor gestrahlt hatte.

Alle Anwesenden konnten es sehen. Und freuten sich mit ihm.

Nicola öffnete die Augen. Voller Dankbarkeit verneigte er sich vor der alten Frau, griff nach dem Stock mit dem goldenen Tierkopf und wandte sich den anderen zu.

Plötzlich begann es zu schneien. Große, bauschige Flocken schwebten vom Himmel und nahmen jeglichen Schwermut von dem Ort. Es wurde ganz still.

Der frische Schnee knartschte unter Nicolas Sohlen. Er ging auf die Gruppe zu und blieb vor der jungen Frau und ihrem Sohn stehen. Er reichte dem Buben den Zettel, den dieser vor wenigen Tagen verloren hatte, bedankte sich und bat ihn um seine Erlaubnis. Der Junge nickte.

Nicola blickte in Claras freundliche, grüne Augen. Als seine Hand ihre Schulter berührte, begann der blaue Schein über seinem Herzen zu pulsieren und verfärbte sich mit jedem Atemzug ein Stück mehr, bis nur noch ein strahlendes, purpurfarbenes Leuchten übrigblieb.

Da zog der kleine Junge an Nicolas Ärmel, blickte nach oben und schenkte ihm sein schönstes Lächeln.

Unweigerlich musste Nicola an seine eigenen Eltern denken, an die Last der Erwartungen, die ihn so lange begleitet hatte. Es war Zeit, diese Last loszulassen. Zeit, zu verzeihen – ihnen und sich selbst. So viele Jahre hatte Nicola fremde Melodien gespielt. Nun wollte er seiner eigenen folgen.

Das war die Geschichte von Nicola, der im Advent eine ganz besondere Botschaft erhalten hat. Und falls du dich fragst, was es mit dem Leuchten der Menschen auf sich hat. Ja, vertrau mir. Es ist genau, was du glaubst. Trau dich. Mach die Augen auf. Dann kannst auch du (d)ein Strahlen sehen.

Ende.

Glaubt an das Gute im Menschen. Eigentlich Betriebswirt. Hat das ALPENFEUILLETON ursprünglich ins Leben gerufen und alle vier Neustarts selbst miterlebt. Auch in Phase vier aktiv mit dabei und fleißig am Schreiben.

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