Meine Augen sind geschlossen, mein Mund geöffnet. Vorfreude hat sich in Sehnsucht verwandelt, sich angesammelt, aufgestaut und ist nun im Begriff endlich erlöst zu werden.
Der Druck wird gleich nachlassen und in Zufriedenheit zerfließen. Das Glücksgefühl wird meinen ganzen Körper einnehmen, sich bis in jede Ecke, in jeden kleinsten Winkel, in jede Falte, jede Pore ausdehnen. Wärme wird hochsteigen und sich in der Mitte wieder sammeln. Meine Muskeln werden sich entspannen und die Müdigkeit endlich zulassen. Gleich. Gleich wird es so weit sein.
Ein Schaudern überzieht meinen Körper, bei der ersten, erwartungsvollen Berührung. Ich sehne mich nach mehr. Mit meiner Unterlippe erhöhe ich den Druck, presse sie dagegen, bis sie ganz aufliegt. Nichts darf verloren gehen. Viel zu lange habe ich mich nach diesem Moment gesehnt. Die kühle, glatte Oberfläche ist der letzte Vorbote der Erlösung. Ich öffne meinen Mund noch ein Stück weiter und versuche mir vorzustellen was gleich geschehen wird. So lange habe ich darauf gewartet.
In dem Moment, als es geschieht, scheint die Uhr stehen zu bleiben. Ich bin nicht mehr auf dieser Welt, schwebe zwischen Raum und Zeit. Wirklichkeit und Fiktion haben sich vereint, zu einem Gefühl der völligen Hingabe, des vollkommenen Glücks. Endlich benetzt er meine Lippen, fließt in einem dunkelroten Strom in meinen Mund und breitet sich darin aus. Bis in den allerletzten Winkel. Er nimmt ihn ein. Komplett. Selbstbewusst und ohne Zweifel. Meine Geschmacksknospen strecken sich entgegen, versuchen die Komplexität des Dargebotenen zu erfassen. In einem Schwall rinnt er meine Kehle hinunter. Endlich ist es geschehen, der erst Schluck genommen.
Das Leben ist eben viel zu kurz, um keinen Wein zu trinken. Und die Fastenzeit eindeutig zu lange.
(Frei nach Johann Wolfgang von Goethe)
Der Text stammt aus dem Jahr 2015. Er wurde neu gefunden und umgehend veröffentlicht.