Innsbruck. Die stets gleichen Straßen. Ich kenne die Ausdrucksweise und die Sprache der hier wohnenden Menschen zur Genüge. In- und auswendig. Meine Blicke gleiten über die mehr als nur bekannten Häuserwände, huschen über sie hinweg. Die Fassaden sind schön, ansprechend. Das waren sie schon immer. Aber sie können meinen Blick nicht mehr fesseln. Ich streife über die Dächer hinweg, hinauf zum Himmel. Ich denke an „Only Sky“ von David Torn und an das Cover dieser CD, auf dem er, vermeintlich einsam, an einem Strand entlang geht. Sein Blick ist nicht auf den Himmel gerichtet, sondern auf den Boden, auf den Sand. Über ihm der Himmel, ein wenig düster, bedrohlich.
Für mich ist das das Sinnbild schlechthin. Für Innsbruck. Für mich. Ich gehe die Straßen entlang, den Blick zu oft auf die Stadt selbst gerichtet. Manchmal auch mit gesenktem Blick, mit dem Blick auf der Straße und meiner unmittelbaren Umgebung. Über der Stadt der Himmel. Eine Metapher dafür, dass das, was Innsbruck im Hier und Jetzt ist, nicht notwendigerweise und zwingend so ist, wie es ist.
Der Blick nach oben, von der Stadt weg, zeigt, dass es auch anders sein könnte. Der Himmel über mir sieht hier ebenso aus wie in und über anderen Städten. Ich bin hier in Innsbruck, muss es aber nicht sein. Mein Blick weitet sich. Wird klarer. Der Himmel über Innsbruck wird zum Symbol für einen Möglichkeitsraum, zu einer Reflexionsinstanz über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten in dieser Stadt. Plötzlich, aus dieser gewonnenen Distanz heraus, lässt sich über Funktionsweise, Strukturen und Bedingungen dieser Stadt nachdenken. Vor allem über die vorherrschende Kultur und manchmal auch Unkultur.
Aus dieser Distanz heraus lassen sich zwei Ebenen und zwei Funktionsweisen der Kultur in Innsbruck beschreiben. Es gibt die Kunst und die Kultur, die sich unmittelbar aus dem städtischen Leben und dessen Bedingungen ableiten lässt. Kunst und Musik, die zu Innsbruck passt, die wie Innsbruck selbst ist. Charmant, vielleicht manchmal ein bisschen kleingeistig und dabei doch von der Selbstüberschätzung einer selbsternannten Weltstadt geprägt. Kleingeist und Größenwahn geben sich im Innsbrucker Kulturschaffen die Klinke in die Hand.
Es wird manchmal versucht, an die Weltspitze anzuschließen, dabei wird aber auch stets die heimelige Gemütlichkeit des Provinzlebens mitgedacht. Eigentlich will man ja gar nicht raus in die große weite Welt und sich dem Druck aussetzen, es in der nächsten großen Stadt zu etwas zu bringen. Lieber in der eigenen, kleinen Szene sein dünnes Süppchen kochen und dann von Zeit zu Zeit die eigene imaginierte Relevanz betonen. Wenn man es schon nicht dort draußen schafft, dann immer hier in Innsbruck. Das gibt Sicherheit, das bedeutet auch Heimat für die geschundenen Künstler- und Musikerpersönlichkeiten.
Die andere Ebene des Kulturschaffens und Kulturlebens in Innsbruck funktioniert anders. Wenn Innsbruck schon nicht die große weite Welt ist, dann muss man sich eben die große weite Welt nach Innsbruck holen. Stellvertretend für diese Tendenz fällt mir das „Fernweh-Festival“ im Treibhaus Innsbruck ein. Allein schon mit dem Begriff „Fernweh“ lässt sich das Konzept dahinter beschreiben, an das ich augenblicklich emotional und intellektuell andocken kann.
Denn „Fernweh“ ist das vorherrschende Gefühl, wenn ich im Sommer in Innsbruck bin. Dabei ist dieses „Fernweh“ nicht nur die Sehnsucht nach geographisch anderswo gelegenen Orten, sondern nach der Erweiterung der Möglichkeiten vor Ort. So sehr ich Innsbruck manchmal auch mag, so sehr begleitet mich ein Überdruss-Gefühl, eine Unzufriedenheit, die Hoffnung, dass es auch anders gehen und funktionieren könnte.
Ich brauche Oasen, Rückzugsorte, andere Orte. Das „Treibhaus“ ist für mich ein solcher Ort. Es war einer der ersten Orte die ich schätzen lernte, als ich nach Innsbruck gezogen bin. Damals glaubte ich, dass er prototypisch für die Weltoffenheit von Innsbruck sei. Nach und nach habe ich bemerkt, dass es sich hier um eine Ausnahmeerscheinung handelt. Um einen Ort, der nicht wegen, sondern trotz Innsbruck funktioniert.
Auf die Beine gestellt von einem Menschen, der trotz allem in Innsbruck geblieben ist, weil ihn, ähnlich vielleicht wie bei mir, eine Art Hass-Liebe mit Innsbruck verbindet. Möglicherweise ist auch ein wenig Trotz im Spiel. Den Widrigkeiten und Umständen zum Trotz werden hier beim „Fernweh-Festival“ nach wie vor hochkarätige „Weltmusiker“ eingeladen, die diese Funktion in doppelter Weise erfüllen.
Zum einen handelt es sich bei den Musikerinnen und Musiker fast durchgehend um wirkliche Weltklasse-Musiker. Um Musiker, die sich künstlerisch und spielerisch mit den ganz Großen weltweit messen können. Aber das ist nicht das eigentlich faszinierende am „Fernweh“ im Treibhaus Innsbruck. Mich fasziniert vielmehr, dass dabei ein ästhetischer „Ort“ geschaffen wird, an dem geschickt und spielerisch zwischen musikalischen Einflüssen, Kulturen und Bezügen „geswitcht“ wird. Dabei entsteht ein neuer Raum, der Grenzenlosigkeit suggeriert und vorführt.
Ich kann dabei grundsätzlich nur für mich sprechen. Für mich weitet sich mein Blick bei fast jedem dieser Konzerte. Mein Blick für die Welt und für Innsbruck wird diffuser, verschwimmt und gewinnt dabei zunehmend an Klarheit und Kontur. Ich nehme wahr, was noch sagbar, denkbar, spielbar und machbar wäre. Ich bin zugleich glücklich und doch implizit unglücklich. Weil ich weiß, dass dieses Gefühl der Klarheit und dieser Blick in die Weite nur temporär sein wird. Danach muss ich wieder raus in die Stadt, nach Innsbruck.
Mein Blick wandert zuerst gen Himmel, der gerade tatsächlich bedrohlich wirkt. Aber auch unglaublich faszinierend. Dann wird mein Blick zurückwandern, auf den Boden, auf die Straßen, auf die Häuser. Ich werde mich gesenktem Kopf nach Hause gehen, im Wissen und in Vorfreude auf die musikalischen Abenteuer, die mich demnächst im Treibhaus erwarten.
Ich glaube, dass sich das alles, letzten Endes, auf den Begriff Heimat reduzieren lässt. Ich weiß, dass ich meine Heimat mag. Aber zu viel Heimat führt zu akuten Vergiftungs- und Überdruss-Zuständen. Dann braucht es Konzerte wie die derzeitigen im Treibhaus als Gegengift. Damit klar wird, dass Heimat auch anders denkbar wäre und auch offen für Veränderungen und Störungen bleiben sollte.
Am wirksamsten wird dieses „Gegengift“ vor allem an zwei Abenden funktionieren: Bei der Jazz-Folk-Indie-Anything-Band „Holler My Dear“ und bei der afrikanischen Weltmusikerin Dobet Gnahore!
Titelbild: Mike Worthington
Wie man sich täuschen kann. Holler my Dear war wohl eines der schwächsten Konzerte des Jahres. Dobet Gnahore hingegen wirklich brilliant.
Fernweh… da kann ich mitreden. Aber „Heimatüberdruss“ ist mir als einer Zweiheimischen ziemlich fremd. So war ich im Treibhaus noch ganz ganz selten. Dafür liebe ich meine Heimatstadt ohne Inbrunst aber mit stetig steigender Intensität. Heute z.B. als ich so mit dem Rad durch die verschiedensten Stadtviertel fuhr und mich dabei durch die verschiedenen Schichten meines Lebens kutschierte ließ ich meinen Blick über die verschiedensten Fassaden streichen… Hötting, Altstadt, Sowi, Wilten, Pradl, Reichenau, Saggen, und wieder Altstadt und Hötting… Die alten, pastellfarbenen Bürgerhäuser mit ihren Erkern, von denen (Erkern!) ich nun auch zwei habe – und LIEBE. Der Dom, der Triumphbogen, die Annasäule… Ikonen der Geschichte… moderne Bauten wie die Sowi mit dem undichten Glasdach oder das schief Hotel beim Olympastadion und der Eishalle… ich besuchte erstmals auch eine mir unbekannte Kirche: Liebfrauenkirche im Saggen… ein Betonbau mit sehr schönem Altarmosaik… zwischen all der Architektur Parks und Baustellen… und darüber über allem thronend… die Nordkette. Mein Bezugspunkt seit ich im Alter von vier mit meiner Familie für etwa zwei Jahrzehnte in eine städtische Wohnung in der Reichenau übersiedelte, mit Nordkette im Norden und Serlesblick im Süden… Unvergesslich die Kommentare meiner Mutter im Winter: Schau, die Nordkettnbahn… schau die Schifahrer… Nie bin ich dort Schigefahren… und meine Mom schon gar nicht… aber sie liebte den Ausblick und ich auch… Nein, auch wenn ich jetzt diesen Nordketten-Serles-Ausblick nicht habe… Gegengift gegen Heimatüberdruss brauch ich nicht… Dafür bräuchte ich Linderung gegen Fernweh… das ich trotzdem habe… als zweiheimische…
Nix mehr Doktorarbeit bei Herrn Dr. Gärtner?