Diverses hat mich in letzter Zeit inspiriert, was ich textlich irgendwie niederschreiben will. Passend zum Monatsthema „Melancholie“ philosophiere ich nun einfach mal vor mich hin:
„Mein ganzes Wissen über Menschen und Gewalt und wie man Menschen Gewalt richtig antut, ziehe ich aus Serien. Ich schaue oft fünf oder sechs Serien gleichzeitig. Man muss ständig präsent haben, wie welche aufgehört hat und was alles bis dahin passiert ist. Am liebsten sind mir Serien, die ich nicht mit meinem Mann gucken muss. Da kann ich dann frei wählen, wann ich weitergucke, manchmal sechs, sieben Folgen an einem Abend. Was ich eigentlich vorher immer gemacht habe? Bevor es amerikanische Serien legal in Deutschland zu gucken gab? Keine Ahnung. Ganz schön langweiliges Leben vorher. Die Menschen in den Serien sind meine Wahlverwandten. Ich habe sie viel lieber als meine wirkliche Verwandtschaft. Meine Wahlverwandten bekommen von mir so viel Zeit und Aufmerksamkeit, da bleibt für echte Menschen nicht mehr viel übrig.“ (Prolog aus „MÄDCHEN FÜR ALLES“ von Charlotte Roche)
Dieser Prolog animierte mich das Buch zu kaufen. Hier wird aufgegriffen, was ich schon länger spüre. Dank Internet ist es kein Problem jegliche Serie wenige Stunden nach Release online zu streamen. Rechtfertigen tun wir uns alle damit, dass es sich dabei ja um qualitativ hochwertige Kunst handelt – stimmt ja auch zu großen Teilen. Was wir verschweigen, ist, dass es sich bei dem Serienhype schon auch um eine Flucht handelt. Früher hat man wahrscheinlich sonstige Drogen genommen oder sich gar umgebracht, heute beschäftigen uns zig Staffeln unzähliger Serien über Stunden und Tage und lassen uns den Alltagstrott vergessen. Wer hat im Freundeskreis nicht schon den Satz gehört „Ich brauch‘ eine neue Serie – hab‘ schon wieder alle Staffeln durch!“. Aber neuen Stoff holt man sich heute nicht mehr vom Dealer des Vertrauens am Bahnhof, sondern eben Online.
Vor Kurzem sah ich Julia Engelmann in einer Talkshow. Die blonde Studentin, welche Poetry Slam vor rund zwei Jahren bei der breiten Masse (also mir) bekannt machte. Alle posteten wir im Januar 2014 ihren Auftritt und fühlten uns ertappt. Auf eindringliche Weise hielt sie uns einen Spiegel vor – uns, einer Generation die alles haben kann und doch so wenig tut.
„Und du? Murmelst jedes Jahr neu an Silvester die wiedergleichen Vorsätze treu in dein Sektglas und Ende Dezember stellst du fest, dass du Recht hast, wenn du sagst, dass du sie dieses Jahr schon wieder vercheckt hast. Dabei sollte für dich 2013 das erste Jahr vom Rest deines Lebens werden. (…) Aber so wie jedes Jahr (…) kam dir mal wieder dieser Alltag dazwischen.“ (Julia Engelmann)
Jetzt ist 2015 dann bald vorbei. War 2015 „das erste Jahr vom Rest meines Lebens?“ – Schwer zu sagen. Spätestens ab der zweiten Jahreshälfte habe ich versucht vieles anders zu machen. Und da entsteht Widerstand, Widerstand in mir selbst und von außen. Obwohl ich mir heute denke, dass der Widerstand von außen mehr eine Reflexion von einem selbst ist. Solange ich nicht definiert habe, dass ich hinter mir und meinen Entscheidungen stehe, solange bleib ich angreifbar.
Roland Düringer fragt derzeit jeden Montag auf Puls4:
„Was ist ein gutes Leben? Eine Frage die sich jeder von uns in einem stillen Moment mal stellen sollte. Hab ich darauf eine Antwort gefunden, stelle aber fest, dass meine momentane Lebensgeschichte nicht diesem guten Leben entspricht, muss ich mich fragen: ‚Was läuft da falsch? – Was hindert mich daran dieses gute Leben zu führen?‘ Und dritte Frage: ‚Was braucht’s um diese angeblich alternativlosen Irrwege zu verlassen?“
Irgendwo hab ich mal den Satz gelesen (wahrscheinlich auf Facebook):
„Eigentlich wissen wir alle was zu tun ist, nur, um es zu tun, müssten wir uns selbst grundlegend hinterfragen – und das wollen wir dann wieder nicht tun.“
Dazu passt dann irgendwie auch der Satz von René Descartes:
„Nichts auf der Welt ist so gerecht verteilt wie Verstand. Denn jedermann ist überzeugt, dass er genug davon habe.“
Bei einer Lagerfeuerrunde diesen Sommer diskutierten wir über Gott, die Welt, die Gesellschaft und Politik und irgendwann zitierte die Mutter einer Freundin jene Geschichte:
„Als ich jung war, wollte ich die ganze Welt verändern. Später wollte ich meine Nächsten überzeugen. Mit 40 wollte ich meine engste Familie überzeugen. Und heute, im hohen Alter, will ich nur noch mich verändern!“
Darauf konterte ich: „Ich glaub‘, der umgekehrte Weg ist klüger – also bei sich starten!“ Traurig, dass Menschen alt werden müssen, um diese Erkanntnis zu erlangen. Wen kann ich denn verändern außer mir? Wenn ich selbst nicht bereit bin mich grundlegend zu hinterfragen, wie kann ich es dann von anderen erwarten?
Jeder kennt den Satz von Großeltern oder Eltern „Die Kinder sollen es besser haben wie wir.“ Eltern die ihr Leben über ihre Kinder verwirklichen, kennen wir alle zu genüge, aber wer ist diese Generation, die dieses bessere Leben dann leben darf? Wenn jede Generation nur für die nächste arbeitet, befinden wir uns in einer Schleife, die niemanden im Heute glücklich macht, oder? Ich habe mir jetzt mal die Freiheit herausgenommen mich als Teil jener Generation zu definieren, der es gut gehen darf – jetzt! Ökonomen sagen ohnehin, dass nun eine Generation folgen wird, die es schlechter haben wird wie wir. Wenn die Wissenschaft das sagt, warum dann nicht heute nochmal feiern gehen oder gar der Liebe sagen, dass sie jene ist?
„(…) fast hätten wir uns mal demaskiert und gesehen, wir sind die Gleichen und dann hätten wir uns fast gesagt, wie viel wir uns bedeuten, werden wir sagen. Und dass wir bloß faul und feige waren, das werden wir verschweigen. (…) Wenn wir alt sind, und unsere Tage knapp, und das wird sowieso passieren, dann erst werden wir kapieren, wir hatten nie was zu verlieren. Denn das Leben das wir führen wollen, das können wir selber wählen. Also lass uns doch Geschichten schreiben, die wir später gern erzählen wollen. (…) Lass mal an uns selber glauben. Ist mir egal ob das verrückt ist. (…) Lass mal werden wer wir sein wollen. (…) Lass uns möglichst viele Fehler machen und möglichst viel aus ihnen lernen. (…) Weil wir können und nicht müssen. Weil jetzt sind wir jung und lebendig und das soll ruhig jeder wissen. (…) Eines Tages, Baby, werden wir alt sein und an all die Geschichten denken, die für ewig uns’re sind.“ (Julia Engelmann)
Jene, denen das zu naiv ist, die dürfen gern weiter stundenlang Serien schauen und tun was gut für später ist und darauf hinarbeiten, dass ihre Kinder es später besser haben und weiterhin kluge Sprüche, Texte und Videos posten, bevor man dann von Ökonomen hört, dass bald alles schlecht wird. Eigentlich sollte ein November auch regnerisch und trist sein, doch momentan sitze ich oft stundenlang in der Sonne und genieße es. Ich könnte mir jetzt natürlich auch Sorgen machen, weil der Klimawandel mich morgen tötet, aber heute bleib ich mal in der Sonne.
„… Das Leben das wir führen wollen, das können wir selber wählen.“ Also können wir auch unsere Welt, entgegen aller Prognosen, vorm Untergang retten – Warum auch nicht? 2015 haben wir noch rund 50 Tage Zeit! In unseren Serien tun sie das ja andauernd…