Musik hat die Tendenz zu zerfallen. Songs sind die kleinste Organisationseinheit und suggerieren Kohärenz. Ein Song verspricht Abgeschlossenheit. Er gibt vor, notwendigerweise so zu sein, wie er ist. Zumindest aber hat er bereits Ausschlüsse und Einschlüsse vollzogen. Sofern der Prozess geglückt ist, überzeugt ein Song mit der Essenz, die er vorstellt und als zwingend argumentiert. Im allerbesten Fall wurden die richtigen Entscheidungen getroffen und er wirkt substantiell.
Eine komplexere Organisationseinheit ist das Album. In Zeiten der Fragmentierung der Wahrnehmung hat es diese Form schwer. Längst ist die mehrheitsfähige Rezeptionsweise daran gewöhnt, einzelne Highlights als Singles, Hits oder besonders herausragende Songs wahrzunehmen. Es ist eine Wahrnehmung der Spitzen und der Höhepunkte. Die Zeit, die ein Album braucht, um Höhepunkte zu etablieren gilt als Zeitverschwendung.
Von Zeit zu Zeit erscheinen Alben, die in diesem Spannungsverhältnis neue Antworten geben. Jede gute Musik und jedes gelungen Album muss sich mit Fragen der Kohärenz, der Beliebigkeit, des Zerfalls, der Substanz und der Organisation befassen. Das hier vorgestellte Album von Mette Henriette stellt sich diesen Fragen auf ganz besonders fruchtbare und interessante Weise.
Das Debüt-Album von Mettte Henritte: Kohärenz und Fragment
Die junge norwegische Saxophonistin und Komponistin Mette Henriette hat, zweifellos auch mit Unterstützung von Manfred Eicher, ein erstaunliches Debüt-Album vorgelegt, von dem sich einiges lernen lässt. Ihre Haltungen zu Musik, zu Klängen und zu Kompositionen, die sich hier ableiten lassen, sind hochspannend und in ihrer Reife und Originalität beispielgebend.
Eine Doppel-CD legt erst einmal nahe, dass es mit der Organisation der Songs im Gesamtkontext Album nicht allzu weit her sein kann. Ein Album mit dieser Spieldauer lässt Langweile, Leerstellen und zumindest streckenweise musikalische Nichtigkeit und Belanglosigkeit erwarten.
Dass das Album von Mette Henriette dennoch bestens funktioniert hat den einfachen Grund, dass sie sich kaum um konventionelle Kategorien und Ordnungssysteme kümmert.
Die Musik auf diesem Album hat Leerstellen, die aber nicht auf mangelnde musikalische Substanz oder gar fehlende Ideen verweisen. Vielmehr wird damit die Musik überhaupt erst in Gang gesetzt. Was sich zwischen den Noten und in der Zwischenzeit ereignet, bis Mette Henriette überhaupt einen Saxophon-Ton spielt, ist bemerkenswert und wird streckenweise zum Eigentlichen.
Sie wehrt sich durchgehend gegen einen fordernden, restriktiven oder gar aggressiven Zugriff auf ihre eigene Musik. Auf der ersten CD lässt sie Klavier und Piano gewähren. Ihr Saxophon ist in diesem Trio niemals dominant. Es untermalt, setzt Stimmungen, verziert. Es geht im Gesamtklang und in der Gesamtidee auf.
Als Komponistin ist ihr Anspruch an die Kompositionen mit ihrem zurückhaltenden Spiel vergleichbar. Die Kompositionen wirken oftmals wie Fragmente, erwecken den Eindruck unfertig zu sein. Zugleich sind es aber auch Songs, die Anschlüsse ermöglichen, die Weiterdenken provozieren. Abgeschlossenheit und absolut Kohärenz sind hier keine notwendigen und zwingenden Kategorien.
Es ist erstaunlich, dass die Frage, ob die Tracks auf diesem Album das Ergebnis langer Ein- und Ausschlüsse oder nur hingeworfene Fragmente sind kaum zu beantworten ist. Einige der Tracks wirken wie Momentaufnahmen, gleichen Klang-, Sound- und Melodie-Versuchen, die dann, wenn in der jeweiligen Logik alles gesagt wurde, einfach abbrechen. Stellenweise wird diese mögliche Logik auch einfach nur ignoriert.
Einige der Tracks wirken hingegen wie lange Überlegungen und Meditationen über die Möglichkeit und Unmöglichkeiten eines Songs und einer Komposition an sich.
Ihnen allen gemeinsam ist die Repetition als Stilmittel, welche diese Musik in die Nähe elektronischer, abstrakte Klanggemälde bringt, in denen weniger die harmonische Entwicklung im Vordergrund steht, als vielmehr dasjenige, das sich in Schichten und Schichtungen über den relevant konstanten Song-Verlauf auftürmt und ereignet. Die kleinste Veränderung, ein leises Hauchen oder der richtige Ton im richtigen Augenblick, kann einen da schon vom Hocker hauen.
Bei der zweiten CD ihres Albums erweitert Mette Henriette das Trio um 10 weitere Musiker. Trompete, Geigen, Bandoneon, Bass, Schlagzeug und einiges mehr. Die Musik bleibt ähnlich „leer“, hat aber wesentlich mehr Facetten und Klangfarben. Gleich im ersten Track wird das Saxophon so deutlich, hörbar und direkt wie auf der gesamten ersten CD nicht. Es schält sich heraus aus einem melancholischen Motiv, das dennoch die Distanz wahrt und dem Pathos fremd ist. Sie spielt eine einfache, berückende, berührende Melodie.
Der Track ist nicht wegweisend für das, was danach kommt. Es folgt wieder Repetition, viel Leerraum. Oftmals brechen Tracks ab, bevor die eigentliche Bandleaderin überhaupt wirklich gespielt hat. Manchmal begnügt sie sich damit, das Mundstück ihres Instrumentes überhaupt erst in den Mund genommen und dem Instrument einen ersten, sehr zaghaften Ton entlockt zu haben. Zeitweise nicht einmal das. Umso erstaunlicher ist es, dass sie im Verlauf das Albums auch ordentlich zupacken kann, teilweise muskulös improvisiert und zum Teil völlig unerwartet wieder in Schweigen und in delikate Zurückhaltung zurückfällt.
So folgt das Album scheinbar keiner zwingenden, inneren Logik. Es entwickelt sich einfach. Organisch, zwanglos. Es macht Umwege, führt ins Nichts und experimentiert mit Möglichkeiten. Stellenweise wirkt es verführerisch vertraut und faszinierend abenteuerlustig zugleich.
Was bleibt ist ein Album, das ganz und gar nicht alltäglich ist. Eine Platte, die interessante ästhetische Fragen stellt, aber sich kaum darum kümmert, diese auch hinlänglich zu beantworten. Noch bevor zu einer Antwort angesetzt wird, brechen die meisten Tracks ab und lassen den Hörer alleine zurück. Irgendwann hört dieser auf zu fragen. Und hört zu. Und zu hören gibt es hier wirklich mehr als nur genug.
Ihr Debüt-Album ist insgesamt ein Dokument des Zerfalls und der Kohärenz gleichermaßen. Zwingendes und Durchdachtes treffen auf Fragmentarisches und fast schon Beiläufiges. In dieser Gegenüberstellung und in dieser Symbiose ensteht daraus eines der interessantesten Debüt-Alben seit längerer Zeit.
Titelbild: allaboutjazz.com