Kleine Kinder leben in der Gegenwart. Über die Jahre bildet sich ein Verständnis dafür heraus, was Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ist. Diese scharfe Unterscheidung ist noch dazu kulturell bedingt und wird in anderen, „archaischeren“ Kulturen so differenziert nicht getroffen.
Erst nach dem sogenannten „Spiegelstadium“ empfindet sich zudem das Kind als von der Mutter getrennt, als eine sich entwickelnde, selbst denkende und unabhängig von der Mutter existierende Persönlichkeit. Bis dahin könnte das Lebensgefühl des kleinen Kindes als „ozeanisch“ bezeichnet werdet. Damit gemeint ist die Verbundenheit von Mutter, Umfeld und eigenem, noch nicht konkret manifestiertem „Ich“.
Wir selbst kennen solche Empfindungen, die an diesen Zustand der allerjüngsten Kindheit erinnern. Vor allem esoterische Diskurse forcieren diese allumfassende Verbundenheit von „Ich“, Welt, Umwelt und Kosmos. In gewisser Weise könnte die Sehnsucht nach solchem Empfinden auch als die Sehnsucht nach einer „Ich-Losigkeit“ beschrieben werden.
Kein Wunder jedenfalls, dass Theoreme aus Zen-Buddhismus und Taoismus immer wieder in „westliche“ Denkmuster einbrechen. In diesen wird die Suspension der pervertierten Form von „Ich“, dem „Ego“ vorangetrieben. Sind wird dieses „Ego“ erst los geworden, dann können wir die Welt wieder unverstellt und vorurteilsfrei wahrnehmen als das, was sie vermeintlich wirklich ist. Wir sind wieder mit ihr verbunden und nicht, wie das „westliche“ Subjekt, von dieser getrennt.
Anders gesagt: Wir glauben, und das durchaus zu Recht, dass wir erst über die Welt nachdenken und reflektieren können, wenn wir uns nicht mehr auf „ozeanische“ Weise als Teil von dieser wahrnehmen. Erst wenn wir getrennt sind, können wir als rationale Subjekte erkennen, beurteilen, wahrnehmen. Reflexion bedingt Distanz.
Um zu dieser Ebene des wissenden Beurteilens und Erkennens zu gelangen, brauchen wir möglichst viel Wissen und vor allem Begriffe. Ohne Begriffe wäre unsere Wahrnehmung blind. Ohne zu wissen, was Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ist, hätten wir kaum die Möglichkeit, diese Unterscheidung zu treffen. Ohne diese Begriffe erschiene uns die Zeit als amorphe Masse, als ein Kontinuum. Mit Hilfe von Begriffen formt sich unser Denken. Es wird rationaler, klarer und differenzierter.
Der Kaiser, der Musik liebte: Darum sind solche Konzert so wichtig
In diesen Überlegungen liegt auch schon das Argument, warum man sich mit seinen Kindern ein „Familienkonzert“ wie „Der Kaiser, der Musik liebte“ ansehen sollte. Das Konzert am 29.01. war für Kinder ab 6 Jahren empfohlen. Wohl nicht ohne Grund. Es ist ein Alter, in dem die Wahrnehmung und die Bildung große Fortschritte machen.
Bedingt ist das natürlich dadurch, dass Kinder spätestens mit diesem Alter zu lesen und zu schreiben lernen. Sie lernen damit mit Begriffen, Wörtern und Sprache an sich umzugehen. Sie lernen, ihre Welt und ihre Umwelt zu beschreiben und diese, mit Hilfe von Begriffen, zu unterscheiden und zu „lesen“. Das damit verbundene Denken ist ein Denken in Dichtomien, in Gegensatzpaaren. Ich-Welt, Heute-Gestern, Gegenwart-Vergangenheit.
Sind diese Unterscheidungen erst getroffen, dann ist klar, dass das Wissen um die Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst. Je klarer das Wissen um die Vergangenheit ist, desto klarer wird das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart.
In der einen Stunde im ORF-Landesstudio wurde deutlich, was es im Heute gibt, damals aber noch nicht gab. In den Zeiten von Kaiser Maximilian I existierten noch nicht einmal Klaviere, geschweige denn elektrisches Licht. Dass es keine Barbies gab, war hingegen den meisten der anwesenden Kindern klar. Mit großem Einfühlungsvermögen führte die Erzählerin Verena Wolf durch diese komplexen Fragen und schaffte es zusammen mit Peter Waldner am polygonalem Spinett deutlich zu machen, was die Musik der frühen Renaissance von der vorangegangenen mittelalterlichen Musik unterscheidet.
Darüber hinaus wurde kindgerecht erklärt, welche Tänzer und welche Tänze am „Goldenen Dachl“ in Innsbruck abgebildet sind. Dass sich selbst Peter Waldner dazu aufschwang mit Schnabelschuhen und Mütze gemeinsam mit den Kindern diese Tänze vorzutragen machte das alles zweifellos noch greifbarer und gegenwärtiger.
Nach solch gelungen und intelligent konzipierten „Familienkonzerten“ gehen Groß und Klein bereichert nach Hause. Man geht mit einem neuen Blick und neuen Begriffen über die große Vergangenheit Innsbrucks und Tirols nach Hause. Der erste Weg führte, natürlich, über den Rennweg in die Innsbrucker Altstadt. Dort wurde, skeptisch und kritisch, von meinen Kindern der Wahrheitsgehalt des Vortrages überprüft.
Tatsächlich fanden sich die „Moresken-Tänzer“ an besprochener Stelle. Tatsächlich sieht das goldene Dachl plötzlich neu und anders aus. War es bisher nur ein schönes Denkmal, lässt es sich jetzt plötzlich „lesen“. Der neu geprägte und informierte, kritische, kindliche Geist erkennt plötzlich etwas, das vorher einfach nur schön oder möglicherweise neutral oder gar alltäglich war. Kindern wird nach solchen Konzerten und Nachmittagen deutlich, in welch geschichtsträchtigen Stadt sie leben und dass sich diese nicht nur über die Gegenwart und über die Zukunft definieren lässt, sondern auch über die Vergangenheit.
Darum, liebe Eltern. Liebe Mütter und Väter. Ihr solltet euren Kindern solche Konzerte „antun“. Möglicherweise sind sie anfangs wenig begeistert, wenn sie zu einem Konzert mit „alter“ Musik gehen sollen, die so gar nicht nach „Schlümpfe“ oder „Barbie“-Musicals klingt. Ich bin aber ziemlich sicher, dass sie hinterher begeistert sein werden. Und dass sie ganz viele Fragen haben, die ihr jetzt gemeinsam klären könnt. Wissen kann nämlich auch auf spielerische Art vermittelt werden. Das gelang der „Innsbrucker Abendmusik“ an diesem Nachmittag ganz vortrefflich.
Titelbild: Innsbrucker Abendmusik