Ich wähne die freie Meinungsäußerung in Gefahr. Seit kurzem muss man auch in der freien Presse, mitten in Europa, anonym publizieren. Die Begründung? Es könnte sich irgendwo auf der Welt eine Gruppe von Studenten finden, die die Äußerungen des Autors als diskriminierend empfindet…
Das studentische Kontrollorgan der USA
Besagter Autor, der an einer renommierten amerikanischen Universität lehrt, schrieb kürzlich in der ZEIT über seine Erfahrungen mit einer Studentengeneration, die sich gleichermaßen vom Tagesmenü in der Kantine („General Tso’s Chicken“) wie von Namensverwechslungen diskriminiert fühlt. Amerikanische Studenten verlangen, dass ihre Uni ein „safer space“ sein sollten, an dem sie in ihrer Identität endlich ernst genommen und von allen Seiten vor Benachteiligung geschützt werden sollen. Hallowe’en-Verkleidungen, die auf andere Kulturen anspielen sind schon eine Zumutung, ebenso wie schlechte Noten für Studenten, die sich unterdrückten Ethnien zugehörig fühlen.
Dass Studenten geneigt sind, mehr oder weniger laut aufzuschreien, wenn die Welt allzu gewaltbereit und unmenschlich zu werden droht, hat eine lange Tradition – angefangen bei der Weißen Rose über die Proteste von 1968 bis hin zur Studentenrevolte im Iran 1999. Dass „ethnozentrische“ Literaturlisten schon Anlass genug sind, auf die Barrikaden zu gehen, ist aber eher ein Novum.
An amerikanischen Universitäten machen derzeit viele Lehrende solche Beobachtungen. Die Juristin Julie Lythcott-Haims hat mit „How to Raise An Adult“ kürzlich ein Plädoyer dafür veröffentlicht, jungen Menschen, insbesondere Studienanfängern, etwas mehr Selbstständigkeit zuzutrauen – offenbar bürgert es sich unter gelangweilten middle-class-Eltern gerade ein, ihre erwachsenen Kinder zu Vorstellungsgesprächen und in Sprechstunden zu begleiten und ihnen jegliche Studieninhalte vorzukauen.
Susan Neiman, ihres Zeichens Harvard-Abgängerin und derzeit Philosophiedozentin in Potsdam, sieht die Infantilisierung als noch breiteres, eigentlich gesamtgesellschaftliches Phänomen – ihr jüngstes Pamphlet nennt sich „Warum erwachsen werden?“ und rekurriert vor allem auf die aufklärerische Idee der Mündigkeit, die, wie sie meint, völlig aus der Mode gekommen ist und in einer konsumistisch geprägten Gesellschaft zudem sehr schwer zu verwirklichen ist. Diese Haltung sieht sie als goldene Mitte zwischen dem Optimismus der Realitätsverweigerer und dem Zynismus der Resignierten: „Ideale der Vernunft sagen uns, wie die Welt sein sollte; die Erfahrung sagt uns, dass sie selten so ist. Erwachsenwerden verlangt, sich der Kluft zwischen beidem zu stellen, ohne eines davon aufzugeben“, schreibt sie.Für die neuen Ivy-League-Studenten teilt sich die Welt wohl allerdings eher in die wenigen, zumeist unterdrückten Gerechten, die im Besitz der Wahrheit sind, und die ignorante Mehrheit, die diese mit Füßen tritt.
… und in Europa?
Das ist der status quo in den USA, von denen böse Zungen behaupten, dass sie immer noch auf ihren Kant warten, die in uns unvorstellbarem Ausmaß nach wie vor mit Ideologien und Extremen zu kämpfen haben, aber in der geruhsamen Alten Welt wird es doch bitte anders aussehen! Die politischen Umstände, die die Proteste von ’68 provozierten – totalitäre Strukturen in Osteuropa, reaktionärer Republikanismus und ehemalige Nazis in wichtigen Positionen in Westeuropa – sind längst beseitigt, die großen Herausforderungen für Studenten heißen heute vor allem Arbeitsmarkttauglichkeit und Workload. Aber auch diesseits des Atlantik wird der political correctness so hingebungsvoll gehuldigt wie irgendwann in grauer Vorzeit der sexuellen Befreiung. An der Uni Kiel etwa kämpfen Studenten seit einigen Jahren um die Umwidmung eines von Deutschlands wenigen Lehrstühlen für Sicherheitspolitik, mit der Begründung, man betreibe „Kriegsforschung“ und paktiere mit der Rüstungsindustrie. Dass seriöse Konfliktforschung für einen NATO-Mitgliedsstaat, der wohl in allernächster Zukunft von
militärischen Interventionen nicht absehen können wird, wichtige Einsichten liefern und vielleicht sogar als Korrektiv dienen könnte, scheint niemandem einzufallen. Nein, politikverdrossen ist diese Studentengeneration eindeutig nicht. Aber sie möchte eine schöne neue Welt, und sie möchte sie schnell. Es ist nicht das Engagement, das so problematisch anmutet. Die Flugblätter der Weißen Rose sind wohlan Empörung und Leidenschaft kaum zu übertreffen, aber ihre Mitglieder waren auch bereit, ihren Kampf bis in die allerletzte Konsequenz auszufechten, mit etwas, das man heute nur sehr ungern „Demut“ nennt. Und es war, wohlgemerkt, ein Kampf für das universelle Ideal der Freiheit, und nicht für ein ganz persönliches ideales Lebensmodell, das gefälligst universell anerkannt werden soll. Ja, natürlich waren die Umstände völlig andere, aber mindestens ebenso sehr die Haltung. „Ich kann nicht abseits stehen, weil es für mich abseits kein Glück gibt, weil es ohne Wahrheit kein Glück gibt“, meinte Hans Scholl – das finden wir heute vielleicht pathetisch, aber es hat doch einen zeitlosen Anspruch. Den Anspruch seiner Studenten sieht der Autor des oben erwähnten Artikels in der ZEIT dagegen als Widerspruch zu jenem Ideal der pluralistischen Gesellschaft, das vor 75 Jahren im Untergang begriffen schien.
Die Welt hat mehr Aufmerksamkeit verdient
Offenbar haben wir kein Problem damit, uns eine eigene Meinung zu bilden, wohl aber damit, dass die Welt, in der wir leben, komplex ist. An amerikanischen Universitäten wünschen sich Studenten in Zukunft trigger warnings bei Inhalten, die potentiell (re-)traumatisierend wirken könnten – genannt werden Literaturklassiker wie etwa Ovids Metamorphosen. Dass die Welt da draußen hässlich, ungerecht und brutal sein kann, wollen wir nicht wahrhaben, und schon gar nicht wollen wir uns dafür verantwortlich fühlen oder gar unseren eigenen Beitrag dazu leisten, dass sie ein bisschen bewohnbarer wird. Die Idee, dass man als junger Mensch der eigenen Gesellschaft, der man zumeist allerhand verdankt (wie etwa hierzulande kostenlose Studienplätze en masse) auch etwas zurückgeben könnte, will uns nicht mehr so recht eingehen, wie unter anderem die Abschaffung des Wehr- und Zivildienstes in weiten Teilen Europas verdeutlicht.
Wir könnten an dieser Stelle natürlich der Verschulung von Universitätsstudien die Schuld geben: Wenn wir in den gegebenen Strukturen derart infantilisiert werden, wie sollen wir uns dann anders als infantil benehmen? Das mag schon ein Teil des Problems sein – aber, wie der anonyme Dozent in der ZEIT schreibt, es fehlt uns auch schlicht die Geduld, uns mit unserer Umwelt wirklich auseinanderzusetzen. Die Generation Like/Dislike hat vielleicht einfach nicht mehr die Fähigkeit oder den Willen, sich die Dinge genauer und aus unterschiedlichen Perspektiven anzusehen, obwohl man meinen sollte, dass das die entscheidende Voraussetzung für Bildung überhaupt sei – oder, wie die Philosophin Simone Weil meinte: „Die echten und reinen Werte des Wahren, Schönen und Guten im Tun und Handeln eines Menschen werden durch ein und denselben Akt hervorgebracht: durch eine gewisse Anwendung der Fülle der Aufmerksamkeit auf den Gegenstand.“
Und ja, damit haben wir schon unsere Probleme; denn hat diese komplizierte Welt, die uns am laufenden Band unser Lebensglück verwehren will, überhaupt unsere Aufmerksamkeit verdient? Könnten wir, wenn wir genauer hinsehen würden, ihre Fehlerhaftigkeit wirklich ertragen, ohne uns permanent darüber echauffieren zu müssen? Und wäre das Leben als Student außerdem nicht schrecklich langweilig, wenn wir uns nicht regelmäßig darüber empören könnten, was für eine Zumutung sie doch ist?
Braucht es eine andere Gesprächskultur?
Zumindest hat man nicht selten den Eindruck, dass es den meisten Studenten an echtem Gesprächsstoff mangelt – jedenfalls beobachtet man ziemlich selten, dass es an der Uni intensive Diskussionen oder gar echte Streitgespräche gibt. Vielleicht ist der Kern des Problems auch, dass wir mit voneinander abweichenden Meinungen nur schlecht umgehen können, weil wir nur mehr selten auf eine Art miteinander reden, dass sie überhaupt zutage treten könnten. Wenn wir also klein anfingen, mit einer etwas anderen, weniger flachen Gesprächskultur? In diesem Sinne: Lasst die Kontroverse beginnen!
Titelbild (c) Richard Masoner, flickr.com
Ich möchte einen Satz aus dem Artikel herausgreifen, der mir besonders wichtig erscheint und dem ich inhaltlich großteils zustimme:
„Dass die Welt da draußen hässlich, ungerecht und brutal sein kann, wollen wir nicht wahrhaben, und schon gar nicht wollen wir uns dafür verantwortlich fühlen oder gar unseren eigenen Beitrag dazu leisten, dass sie ein bisschen bewohnbarer wird.“
Vor allem der Aspekt des nicht vorhandenen Bewusstseins der eigenen Verantwortung scheint mir relevant. Ich würde sogar einen Schritt weitergehen und von mangelnder Fähigkeit oder mangelndem Willen zur Selbstreflexion sprechen. Wir leben in einer Gesellschaft des Annehmens, Nachbetens und nicht in einer des Hinterfragens.