Man beginnt langsam wieder damit, Zäune zu bauen und sich abzuschotten. Wegen der Sicherheit. Um wieder Recht und Ordnung gewährleisten zu können. Die Gegenseite wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass erst vor wenigen Jahren Mauern gefallen sind und Zäune zerschnitten wurden. Menschen, die bis dahin getrennt waren wurden Brüder und Schwestern. Sie skandiert „Willkommen“ und beschwört die „eine Menschheit“. Das ist schön. Doch das löst keine Probleme und verkennt die unterschwelligen Diskurse und Denkmuster, welche die derzeitige Situation begleiten.
Ich bin. Obwohl jeder Augenblicke des Eins-Seins kennt, leben wir, zumindest im „westlichen“ Kontext, in strikter Differenz zum Anderen. Ich bin nicht du. Wir können uns begegnen, wir können uns sehr nahe kommen, in einer Partnerschaft sind Momente der Auflösung dieser Grenzen und Abgrenzungen denkbar. Zumindest für Augenblicke oder Minuten.
Es gibt Momente, in denen wir uns mit der Welt verbunden fühlen. Zumeist, wenn wir glücklich sind. Dann, wenn die Welt unserem Willen keinen Widerstand leistet und sich alles wie „von selbst“ fügt. Dann wirkt es so, als ob wir der Welt nicht unsere Wünsche und unseren Willen aufzwingen müssten, damit sich Situationen so entwickeln, wie wir es uns vorstellen.
Es wirkt so, als ob die Welt auf unserer Seite wäre. Meist aber ist es so, dass wir die Welt aus einer Distanz betrachten. Möglicherweise lässt sich sogar davon ausgehen, dass rationales Denken auf der Unterscheidung von „Ich“ und „Welt“ basiert. Wenn ich mich in einem symbiotischen, ungetrennten Bezug zur Welt befinde, kann ich sie nicht analysieren und erst recht nicht verstehen.
Was aber, wenn diese Grenzen und Unterscheidungen fallen? Dann ist „Ich“ ein „Anderer“. Ich bin nicht mehr „Ich“, sondern kenne mich selbst nicht. Ich bin mir selbst fremd. Fremde sind wir uns selbst. Das irrationale Unterbewusstsein hebelt das aus, was „Ich“ sei möchte. „Ich“ ist „Es“ geworden. Ich bin nicht mehr bei mir selbst, habe mich verloren.
In diesem Zusammenhang muss von Identität die Rede sein. Außerdem ist die Frage virulent, ob Europa jemals „bei sich“ war, jemals eine wirkliche Identität, ein wirkliches „Ich“ herausgebildet hat. Hat Europa eine Identität, die es unterscheidet und unterscheidbar macht? Oder ist Europa ein Gedankenkonstrukt, ein Flickwerk aus vielen möglichen Identitäten, das überaus fragil ist und das jetzt zu zerbrechen droht? Es wirkt so.
Zäune und Mauern sind kein Ausdruck einer klaren, abgrenzbaren Identität, sondern Ausdruck der Verzweiflung. Es sind Versuche sich abzuschotten in einer Welt, in der man sich nicht abschotten kann. Europa verteidigt panisch seine sogenannten „westlichen Werte“, die bis zur realen Bedrohung durch das „Außen“ auf Freiheit des Konsums und Freiheit des Lebensstils beschränkt waren. Jetzt, da Europa eine Migrationsbewegung immensen Ausmaßes erlebt und reale Bedrohungen aus dem „Innen“ heraus Realität sind, besinnt sich Europa wieder auf Werte der Aufklärung. Das ist legitim und ganz sicherlich auch verständlich. Glaubwürdig ist es aber nicht.
Jetzt stehen zwei Optionen im Raum. Europa kann selbstverständlich seine fragile Identität, sein brüchiges „Ich“ einzäunen und eingrenzen. In der Hoffnung, damit die Bedrohung von „Außen“ auszugrenzen. Daraus resultiert die bloße Behauptung, dass wir als Europa eine klare Identität hätten und andere Denksysteme, religiöse Gemeinschaften und Weltbilder diese nach und nach kollabieren ließen.
Wir wären nicht mehr „Wir“, wenn wir die „Anderen“ Teil unseres „Selbst“ werden ließen. Diese Option wäre exkludierend, höchstwahrscheinlich mörderisch und zweifellos grausam. Wenn wir Zäune und Mauern bauen um uns einzuschließen und unsere „Identität“ zu verteidigen, schließen wir andere, noch mögliche Identitäten, aus und lassen sie an unseren Zäunen und Grenzen gnadenlos abprallen.
Europa könnte aber auch akzeptieren, dass es längst nicht mehr bei sich selbst ist. Vielleicht auch nie war. Dass das „Ich“ Europas längst schon vom „Anderen“ durchzogen und beeinflusst ist. Die fragile Identität Europas wäre durchlässig, offen, veränderungsbereit. Die derzeitige Migrationsbewegung wäre in dieser Hinsicht keine Bedrohung, sondern eine Chance. Der „Kampf der Kulturen“ wäre durch ein ineinanderfließen der Kultururen aufgehoben.
Daraus ergibt sich eine einfache und doch komplexe Frage. Wie viel „Andere“ können wir in unserem „Selbst“ akzeptieren? Wann löst sich auch die komplexeste und vielschichtigste Identität auf und verwandelt sich in uferloses Chaos? Ist es tatsächlich möglich, das Denken in Gegensätzen und Identitäten zu überwinden, das Europa seit Anbeginn seiner Denkgeschichte geprägt hat? Wie lebt es sich mit völliger Offenheit, ohne Rahmen und ohne Grenzen?
Der Traum von einem offenen Europa ist schön. Selbstverständlich können wir die (irrationale?) Entgrenzung fordern. Hier und Jetzt. Ab sofort. Aber was würde passieren? Würden wir bereichert und glücklich zurückbleiben oder wären die Krisen unabsehbar, in die wir uns stürzen? Wir wissen es nicht. Aber wir werden uns entscheiden müssen.
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