Immer langsam mit den jungen Pferden. In so mancher Tiroler Tageszeitung wird schon davon geträumt, dass Sophie Hunger die wichtigste europäische Musikerin unserer Zeit sei. Abgesehen davon, dass man mit solchen Superlativen keinem Künstler etwas Gutes tut, was etwaige Erwartungshaltungen betrifft, geht diese Formulierung meilenweit an der Realität vorbei. Nicht weil Sophie Hunger uninteressant oder gar unmusikalisch wäre. Aber allein schon deshalb, weil man sich dem Phänomen Sophie Hunger mit begrifflicher Präzision und genauer Analyse annähern muss. Man muss ihre musikalischen Verfahren beschreiben, nicht in schwärmerischem Ton über etwaige Bedeutungen in unklaren Kontexten orakeln.
Das Konzert
Wir schrieben den 28. Februar. Sonntag. Der Tag, an dem Sophie Hunger im „Weekender“ in Innsbruck gastierte. Vor dem Club stand ein riesiger Tour-Bus, offenbar und später gut hörbar gefüllt mit allerlei hochwertigem Equipment auf dem neusten Stand der Technik. Zum Glück, denn so konnte kein Soundmatsch das Konzerterlebnis trüben. Die Stimme: Glasklar. Die Gitarre: Gut hörbar und perfekt abgemischt. Der Gitarrist der Band mit seinen Sounds und Spielereien: Ein Erlebnis und eine kleine Offenbarung.
Eines ist klar: Sophie Hunger spielt „Alternative-Pop“ für Menschen, die eigentlichen gar keine „alternative“ Musik mögen. Und sogar Menschen, die solche Musik mögen, schätzen sie. Einigermaßen verwirrend das alles. Aber genau damit ist das Phänomen Sophie Hunger am besten beschrieben.
Bereits beim Eröffnungs-Track „Supermoon“ wird deutlich, dass Sophie Hunger nicht deshalb zwischen Jazz und Pop oszilliert, weil sich diese Einflüsse tatsächlich in ihrer Musik wiederfinden und weil sie sowohl gute und eingängige Melodien als auch schräge Akkorde und teilweise abweichende Song-Strukturen mit im Gepäck hat. Man kommt ihr auch nicht näher, wenn man von einer perfekten Mischung aus verschiedenen Stilen spricht. Möglicherweise findet man, vor allem in den Flügelhorn-Passagen, Einflüsse aus dem Modern Jazz. Ganz sicher hat die gute Dame auch ein paar französische Songwriter und Chanson-Komponisten gehört und verinnerlicht.
Klarerweise wäre es daher lohnend, sich mit all den Versatzstücken zu beschäftigen, die so in ihrer Musik herumschwirren. Es gibt aber einen ganz konkreten Grund, warum sich offenbar sowohl Ö1-Menschen als auch FM4-Hörer auf diese Künstlerin einigen können. Nein, nicht deshalb weil sie die „wichtigste europäische Musikerin unserer Zeit“ ist. Sondern weil sie in ihrem klar abgesteckten Rahmen etwas ganz und gar Außergewöhnliches schafft: Sie weiß was sie tut und kann ihre Songs nicht nur spielen, sondern sie spielt mit ihnen. Das ist im „Alternative-Pop-Rock“ längst keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Ausnahme.
Einfach gesagt könnte man daher sagen, dass Sophie Hunger die Funktionsweise eines guten Songs offen legt, mit dieser Funktion spielt und äußerst kreativ umgeht. Während man bei anderen Bands das Gefühl hat, dass sie mit ihren ohnehin nicht sonderlich komplexen Songs schon überfordert sind und sich live abmühen die Studio-Versionen einigermaßen zu reproduzieren, passiert bei einem Konzert von Sophie Hunger etwas ganz und gar anderes.
Das „Verfahren Jazz“ bei Sophie Hunger
Sie variiert ihre Songs, erarbeitet und erspielt sie sich in den Live-Momenten neu, setzt sie so zusammen, dass sie den Studio-Versionen sehr nahe kommen – aber dennoch frisch und wie zum ersten Mal interpretiert klingen. Bereits der erste Song ist anders als die Studio-Version in Sachen Tempo der Gitarre, der Phrasierung ihre Stimme. Es ist so, als ob sie ihren eigenen Song interpretiert und vor den Augen der ZuhörerInnen neu erschafft. Mit den Mittel der Improvisation arbeitet sie sich an ihren eigenen Kompositionen ab. Federleicht und jenseits aller merklichen Mühe und Bemühung.
Sophie Hunger agiert in dieser Hinsicht wie eine Jazz-Musikerin. Mit den Mitteln des Jazz lockert sie festgefahrene Songstrukturen und umschifft die Gefahr der bloßen Live-Reproduktion ihrer Songs gekonnt wie kaum eine andere Musiker in ihrem Bereich. Sie erliegt nicht dem Irrglauben, dass die Dokumente der Still-Legung eines kreativen Prozesses das eigentlich Erstrebenswerte sind. Im Grunde sind Songs auf Alben nur Momentaufnahmen, im allerbesten Fall die im Moment bestmögliche Interpretation eines Songs, der auch noch anders hätte klingen können.
Einfach gesagt: Die Songs von Sophie Hunger leben, bewegen sich, verändern sich. Und sie und ihre Band haben das Talent, das kreative und musikalische Vermögen, ihnen dieses Leben und diese Prozesshaftigkeit zuzugestehen.
Sie ist somit ganz sicher nicht die wichtigste europäische Musikerin unserer Zeit. Das ist auch in keinster Weise ihr Anspruch. Sophie Hunger schafft etwas gänzlich anderes. Sie etabliert ein musikalisches Verfahren im erweiterten „Indie-Kontext“, das eigentlich dem verpönten Jazz und der improvisierten Musik entstammt. Damit lassen sich Genre-Grenzen weiten, vorgefertigte Muster aufbrechen und das Format Song neu denken. Das ist schon eine ganze Menge.
Sophie Hunger übernimmt bereits vorhandene Verfahren und transferiert sie. Eventuell könnte man sich wünschen, dass sie neue Verfahren und neue Kunstgriffe etablieren würde. Das bleibt aber wohl oder übel einer wie auch immer gearteten Avantgarde vorbehalten.
Sophie Hunger möchte nicht Avantgarde sein. Sie möchte auch nicht bedeutend oder wichtig sein. Sie möchte Pop sein. Sie möchte groß sein und sie hat ganz offensichtlich kein Problem für größeren Massen an ZuhörerInnen zu spielen und diese zu begeistern. Sie ist Entertainerin. Eine Künstlerin für eine breitere Masse, die noch größer und bekannter werden wird, als sie es im Moment ist. Das ist kein Problem, sondern das ist gut so. Sophie Hunger ist Rampensau, Künstlerin und grandiose Musikerin in einer Person. Eine seltene Erscheinung.
Man muss ihr dankbar sein, dass sie, im Gegensatz zu vielen anderen MusikerInnen in diesem Bereich, auf Musikalität und Kreativität setzt. Das ist ihr eigentlicher Verdienst. Das ist es wohl auch, was die Besucher des Konzertes in Innsbruck begeisterte. Zu Recht.
Zum Reinhören
Titelbild: (c) Dominik Pfeifer