Ein Augenzwinkern an unseren AFEU-Kolumnisten Georg Oberthanner, der in diesem Herbst verstorben ist.
Viele Institutionen dieser Welt haben vorne eine Sonnenseite, vor der sich das Leben austobt, und hinten eine schattige Installation, worin nichts anderes herrscht als die pure Zeit. Dieser lichtlose Bereich wird meist Archiv genannt und von solitären Personen betreut, die zur Zeitlosigkeit fähig sind.
Am Beispiel der Universität Innsbruck zeigt sich etwa die Sonnenseite in Gestalt der Uferpromenade, auf der sich Tausende von Studenten täglich insektenhaft in der Westsonne räkeln. Die Schattenfront hingegen führt als Bücherbunker direkt zur Unikreuzung hinaus, in diesem Betonguss sind wertvolle Schriften als endloses Archiv eingeschlossen.
Alles, was wir von Tirol wissen, wissen wir, weil es im Archiv aufgeschrieben und gebunkert ist. Immer wieder werden Sätze aus dem Archiv abgerufen und als patriotische Erzählung, Heldenschlacht am Bergisl oder dümmliche Piefke-Saga für den jeweiligen Alltagsgebrauch zusammengestellt. Das Bild des Tirolers entsteht dadurch, dass man zu jeder Gegenwart vergangene Sätze über ihn neu komponiert.
Ein Verwalter dieses Schatzes wird Archivar genannt. Wann immer jemand den Bunker betritt – er wird zum Archivar.
Am ehesten gleicht diese Bücherspeicheranlage dem Innern eines U-Bootes, das unter der Zeit durchtaucht. Uneingeweihte Besucher bekommen regelmäßig Angstzustände und Schwindel, wenn sie durch die Regale geschleust werden wie durch einen Schiffsbauch.
Der Archivar betritt also sein Arbeitsfeld mit gebotenem Respekt, er wird sofort still und horcht auf sein Inneres, wenn er das Innere der Anlage wirken lässt. Das Zeitgefühl verschwindet auf der Stelle, manche haben das Gefühl, schon in Pension zu sein, obwohl sie gerade erst in den Dienst eingetreten sind, andere fühlen sich in einen Dom versetzt, dritte ordnen schnell ihr Leben, weil sie nicht wissen, ob sie wieder aus dem Archivzustand hinausfinden.
Kühne Abenteurer berichten davon, dass es in einem Archiv ähnlich ruhig ist wie im Auge eines Hurrikans.
Der Beruf des Archivars dient nicht nur der Gesellschaft und ist von Nutzen, er löst ab und zu auch einen Seelenfrieden im Inneren des Beamten aus, der ihn ausübt.
Natürlich sind Archivare besondere Menschen, wobei unklar ist, ob sie es aus Veranlagung oder aus Verrichtung des Dienstes geworden sind.
Der Archivar jedenfalls nimmt seine Probleme nicht mit, wenn er ins Innere geht, ebenso lässt er die Probleme des Archivs nicht nach draußen dringen.
Es gibt ähnlich wie bei Kafkas Türhüter eine Schleuse, welche die Welten unvermischt lässt, wodurch sich jeweils verschiedene Zeiten auftun.
Die Zeit im Archiv jedenfalls ist die Ordnung. Tagelang kannst du durch die Regalgänge gehen und wirst alles finden, was ansteht. Die aufgebauten Schriften sind längst Eigennachrufe geworden, niemand kennt sie mehr als der eigene Verfasser.
Es liegt ein Hauch von Unsterblichkeit in der Luft, denn Jahreszahlen spielen in diesen Gängen keine Rolle.
Der hier gewürdigte Georg Oberthanner war nicht nur Bibliothekar, sondern „Grauer Archivar“, das höchste, was in dieser Orden-losen Welt erreicht werden kann. Er hat ein Leben lang die „graue Literatur“ des Landes zusammengetragen, erforscht und für alle Zeiten richtig inventarisiert.
Anlässlich der Pensionierung haben wir gegenseitig Ordner über einander angelegt, worin wir unsere Arbeiten abgespeichert haben. „Und am Schluss schiebst du meine Parte in den Ordner!“ hat er verlangt.
Das ist hiermit geschehen, und Georg Oberthanner ist endgültig Teil jenes Archivs geworden, von dem es heißt: „Zeit ist Ordnung.“
STICHPUNKT 20|40, geschrieben am 11/11/20
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