Heuer brauchen wir Weihnachten mehr denn je. Den unvoreingenommenen Blick des Neugeborenen und seinen naiven Glauben, dass alles gut sein wird.
Was für ein toller Gottes-Geburtsmythos, den das Christentum uns da geschenkt hat! Während frühe Götter aus Mord und Totschlag entstanden, oder wie Athene, bestenfalls als Kopfgeburt, aber immer noch durch einen Axthieb des Hephaistos aus dem Haupt des Zeus gewaltsam herausgemeißelt, erzählen die Christen die Geburt ihres Gottes als verletzliches, aber dennoch unverletztes Baby inmitten von Tieren und armen Hirten und Königen, also kurzum: friedlich eigebunden in den gesamten Kosmos von Lebewesen und sozialen Ständen. Die Empfängnis ist zwar, wie in vielen Göttermythen, ohne erkennbaren Vater vonstattengegangen, ein bisschen was Besonderes muss schon sein, aber dennoch hat dieses Jesuskind neben der Mutter auch einen liebenden Vater, der sich um beider Wohlergehen kümmert, während vedische und antike Götter noch vor der Mordlust ihrer Väter oder anderer Verwandter beschützt werden mussten. (Das bisschen römische Verfolgung zählt hier nicht wirklich. Muss halt sein, um der Dramatik der Erzählung willen.)
Im Christentum ist das Neugeborene ausschließlich Hoffnungsträger. Verweist auf die Möglichkeit eines Neuanfangs. Eines Paradigmenwechsels. Eines besseren, nämlich eines guten Lebens.
Auch wenn wir wissen könnten, dass dieses in der Krippe liegende Neugeborene einmal in vielem auch scheitern wird, dass er als pubertärer Ausreißer seinen Eltern Sorge bereiten, sich mit Bankern und Wirtschaftsbossen vor dem Tempel handgreiflich anlegen und auch sonst noch allerlei – in den Augen der Traditionalisten unerhörten Unfug — treiben wird und am Ende sogar als Aufrührer auf einer Stufe mit Kleinkriminellen enden wird, ist da zu Weihnachten vorerst nur die reine Freude über ein neues Wesen, das die Welt mit eigenen Augen naiv entdecken und uns Erwachsenen diesen unvoreingenommenen Blick zurückschenken kann.
Dafür brauchen wir Weihnachten mehr denn je in Zeiten der Unsicherheit, der multiplen Umwälzungen und Krisen. Für den offenen Blick auf eine neu entstehende, andere Daseinsform und die Hoffnung auf ein noch unbekanntes gutes Leben und darauf, dass es uns allen vielleicht besser gehen wird, wenn wir unsere Welt mit den Augen des Neugeborenen wiederentdecken und mit dem heranwachsenden Kind das Althergebrachte wieder einmal einer eingehenden Prüfung unterziehen.